WINA: Sie spielen derzeit in einem zeitkritischen Stück, das von größter Aktualität ist. Und Sie verkörperten beide wichtige Rollen in Elfriede Jelineks packendem Drama Rechnitz über die Massaker an ungarisch-jüdischen Flüchtlingen im Heustadel der Familie Batthyány im Burgenland. Herr Oley, Sie schrieben und inszenierten zudem die Bühnenfassung von Charlie Chaplins Der große Diktator, eine beißende Hitler-Parodie, für die Kammerspiele. Muss man als Schauspieler politisch – mindestens – interessiert sein, um so heikle Themen glaubwürdig darstellen zu können?
Robert Joseph Bartl (RJB): Ich glaube schon, dass man ein gewisses Maß an politischem Interesse mitbringen muss, wenn man sich mit Literatur beschäftigt. Vielleicht gibt es Ausnahmen, Schauspieler, die sich nicht für politische Vorgänge interessieren, aber grundsätzlich müssen wir uns vor jedem Projekt zu allererst mit dem Dichter, der Autorin auseinandersetzen. Wenn ich Max Frisch oder Elfriede Jelinek spiele, dann käme mir nicht in den Sinn, das nicht zu reflektieren. Auch Unterhaltung hat sehr wohl etwas mit Haltung zu tun, daher erhebt sich ganz automatisch die Frage, was hat der Text mit mir zu tun, hat er heute noch seine Gültigkeit? Wir sind ein Theater und kein Museum – das verwechseln leider manche Abonnenten.
Dominic Oley (DO): Schauspieler sollten eine politische Haltung haben. Ich versuche die Texte immer mit der Matrix der Empathie zu lesen, ich tue das für die Menschen, die da unten sitzen, mit denen wir uns in einem gemeinschaftlichen Prozess befinden. Daher beschäftige ich mich intensiv mit den Menschen und ihren politischen Gedankenkonstrukten. Auch wenn ich einen Bösen spiele, versuche ich diesen zu verstehen, und das an sich ist schon ein politischer Vorgang. Ich wende mich dabei einer anderen Weltsicht zu, daher muss ich mit Leib und Seele hinter der Figur stehen, aber das heißt natürlich nicht, dass ich mit der Figur einer Meinung sein oder sogar Lust aufs Zündeln bekommen muss!
RJB: Der große Luxus in unserem Beruf ist, dass wir nicht werten müssen, ja sogar nicht werten dürfen …
„Auch Unterhaltung hat sehr wohl etwas mit
Haltung zu tun, daher erhebt sich ganz automatisch die Frage, was hat der Text mit mir zu tun […].“
Robert Joseph Bartl
In der Produktion Biedermann und die Brandstifter (zum Inhalt siehe unten) des Theaters in der Josefstadt spielen Sie die Eindringlinge, die die heile Welt des angeblich unverwundbaren Kleinbürgers zerstören. Was sind die beiden für Sie? Klassenkämpfer für die Zukurzgekommenen, Weltverbesserer?
RJB: Weltverbesserer sind sie in meinen Augen nicht, ich glaube, sie sind einfach Mittel zum Zweck. Sie werden vielleicht in „höherem Auftrag“ geschickt …
DO: Ich sehe das ähnlich. Die Brandstifter schaffen es nicht allein, den Brand zu legen, weil sie kein Feuer haben, sie brauchen menschliche Mithilfe, und das verweist wiederum auf den Schriftsteller Frisch, der zwinkernden Auges die Gesellschaft beobachtet und daraus folgert: Der Teufel ist zwar in der Welt, aber er kann nichts anstellen, denn es bedarf der politischen Fehlbarkeit des Menschen, um das Böse zu vollbringen.
Da wir – nicht erst seit heute – in einer Welt der „Brandstifter“ leben: Wer sind für Sie die Schlimmeren, die Brandstifter oder der Biedermann? Die effektiven Zündler oder jene Menschen, die durch ihre Trägheit und/oder Feigheit zum Schüren der Glut beitragen und so den Brand erst ermöglichen?
RJB: Sie haben schon selbst geantwortet: Die einen sind, was sie sind, aber der andere, in diesem Fall der Biedermann, hätte die Möglichkeit, etwas zu tun, aber macht es nicht. Schauen Sie doch, was jüngst in Florida vor dem Hurrikan geschah. Man musste den Menschen mit dem Tod drohen, damit sie zur eigenen Sicherheit ihr Hab und Gut verlassen. Je mehr der Mensch besitzt, denkt er, vielleicht geht’s an mir vorbei … Diese Verdrängung hat sehr viel mit unserem Stück zu tun, so will auch Frau Biedermann die plumpen, greifbaren Hinweise auf das Unglück nicht sehen, sorgt sich nur um ihren Schmuck und das Eigenheim.
„Ich würde so gerne Originalstücke schreiben,
keine Zuschreibungen, keine Textflächen.
Einfach Schauspielern, Künstlerinnen zuschauen,
wie sie Menschen aller Ethnien, aller Nationalitäten zum Leben erwecken.“
Dominic Oley
Max Frisch schrieb 1958 anlässlich der Uraufführung des Stücks: „Ich weiß nur, dass heute dieser Riss durch die ganze Welt geht.“ Auch 66 Jahre später ist diese Welt von mannigfaltigen Rissen gezeichnet. Hat sich am menschlichen Verhalten gar nichts verändert?
RJB: Grundsätzlich wahrscheinlich nicht. Wir wollen gute Unterhaltung für die Menschen machen, und wenn über diesen guten, spannenden Theaterabend zumindest eine oder einer von zehn Besuchern anders reflektiert, also überhaupt nachdenkt, ist das schon ein kleiner Gewinn. Meine Brötchen sind mit der Zeit etwas kleiner geworden, was die Wünsche betrifft, ich glaube nicht, dass wir die Welt verändern.
DO: Es geht ja am Theater darum, Größenwahn und Bescheidenheit miteinander zu verheiraten, weil das Theater auch den Anspruch hat, eine kathartische Anstalt zu sein: Wenn wir 500 Leuten gut unterhalten, dann haben wir sozusagen etwas zur urbanen Atmosphäre beigetragen. Das heißt nicht, dass wir uns als Messias oder Prediger instrumentalisieren lassen, aber Empathie bei den Besuchern zu wecken, damit sie außerhalb ihrer eigenen Befindlichkeit Dinge wahrnehmen, sie in ein Lot rücken, das hilft dabei, auch die hiesige wunderbare und lange Tradition zu erhalten.
Glauben Sie an die Kraft des Theaters als Instrument des „Wachrüttelns“?
RJB: Die Politik ist daran interessiert, dass Abhängigkeit nicht abgeschafft wird, und das ist eine düstere und traurige Erkenntnis, die mich manchmal auch deprimiert zurücklässt. Wenn ich mir die jüngsten Wahlergebnisse in Ostdeutschland ansehe, oder auch jene hier in Österreich mit den Slogans von „Mauer“ über „Festung“ oder „Volkskanzler“, sieht man, dass diese Begriffe so langsam den Schrecken verlieren, je öfter man sie hört oder plakatiert. Ich befürchte, dass man wieder so argumentiert, wie wir das schon erlebt haben: „Lasst die nur ran, sie haben sowieso keine Lösungen, das sind nur Schlagworte“, und „sie werden in ein paar Jahren wieder abgewählt“. Oder eben auch nicht …
DO: Man merkt hier Züge eines gewissen Fatalismus, nach dem Motto: Es war früher alles schlecht, und es bleibt schlecht. Dabei unterschlägt man auch die guten Dinge, die seit 80 Jahren passiert sind. Man will vieles nicht wahrhaben, einfach weil die Zustände insgesamt komplexer geworden sind. Daher verdrängt man, dass sich erfreulicherweise die Nationalstaatlichkeit auflöst und vieles beim Klima richtig gemacht wird.
Aus Ihren beiden Biografien habe ich herausgelesen, dass Sie bei der Ausbildung am Wiener Reinhardt Seminar die gleichen Lehrer hatten, darunter Klaus Maria Brandauer, Karlheinz Hackl, Artak Grigorian und Samy Molcho. Sie stammen beide aus Deutschland, sprechen in der aktuellen Produktion einen Text des Schweizers Max Frisch, dennoch hören Sie sich auf der Bühne „gut österreichisch“ an. Sie reüssierten beide auch in Nestroy-Stücken. Woher kommt das?
RJB: Als ich nach Wien kam, um am Reinhardt-Seminar zu studieren, war die Stimmung noch eine ganz andere. Es gab einen gepflegten Deutschenhass in Wien: Wenn man im Supermarkt eine Tüte haben wollte, entstand Schweigen, Schweigen, Schweigen – und einer flüsterte, „so ein bundesdeutsches Gfrast“. Wir haben in Windeseile versucht, möglichst schnell österreichisch zu sprechen, weil wir gemerkt haben, dass es besser ist, vor allem, wenn man, so wie ich, sehr gerne in dieser Stadt lebt. Außerdem ähnelt das Bayrische dem Wienerischen sowieso. Oft haben Schauspieler eine hohe Musikalität, das hilft auch.
DO: Ich freue mich, dass das so rezipiert wird, weil ich oft mit mir gehadert habe, ob ich das Recht auf den Zugriff auf diesen Wiener Blues habe. Ich bin einer großer Freund des Wienerischen, weil ich die Texte von Helmut Qualtiger und Gerhard Bronner liebe, weil sie diese tolle musikalische Form haben, mit dem Leben fertig zu werden. Das Deutsche ist so direkt und unverblümt, dagegen ist das Wienerische ein florales Gewächs.
Herr Bartl, Klaus Maria Brandauer holte Sie bereits 1999 als Eleven an das Burgtheater. Sie spielen laufend in Filmen mit, z. B. im Münchner Tatort als Gerichtsmediziner, und gastieren auch mit musikalisch begleiteten Literaturprogrammen auf diversen Festivals. Was machen Sie eigentlich am Liebsten?
RJB: Ich bin ein Bühnenschauspieler, und wenn’s dunkel wird, muss ich an einem Portier vorbeigehen. Die Aufregung, jeden Abend das Lampenfieber zu bezwingen, hat etwas mit Lust und Freude zu tun. Aber ich mache auch Fernsehen gerne. Was die musikalischen Literaturprogramme betrifft, war es mein großes Glück, Brandauer als Lehrer zu haben, weil er sich mit große Verve auf seine Professur gestürzt und auch literarische Musikabende gemacht hat: Das habe ich ganz einfach von ihm gelernt.
Gibt es eine Lieblingsrolle, die Ihnen Direktor Herbert Föttinger noch vor seinem Abschied schenken könnte?
RJB: Traumrollen sind immer schlecht, da wartet man 20 Jahre darauf, dann passt der Regisseur nicht oder etwas anderes. Meistens sind Rollen, die man gar nicht kannte, oder Uraufführungen die größeren Glücksfälle. Doch eine schöne Rolle will mir Föttinger schon im Frühling 2025 schenken: den Lenny in John Steinbecks Von Mäusen und Menschen in den Kammerspielen.
Herr Oley, Sie leben seit 2009 wieder in Wien und arbeiten hier als Autor, Regisseur, Schauspieler und Musiker. Was machen Sie am liebsten?
DO: Ich bin auf so ein fantastisches Karussell aufgestiegen, vielleicht auch aus Unentschlossenheit, weil ich mich als Sternzeichen Zwilling nicht für eines entscheiden konnte. 2001 kam ich nach Wien fürs Studium ans Reinhardt-Seminar, war später wieder weg und kehrte in die Stadt zurück. Ich hatte einen sehr engen Kontakt zu René Pollesch, er hat mich in meinen inhaltlichen Kämpfen begleitet, und mit den Jahren habe ich mich mit dem Gedanken angefreundet, dass ich diese verschiedenen Sachen mit Freude mache. Ich sehe mich gerne lernen, sowohl vom Publikum wie auch vom Regisseur, das ist ein ständiger kreativer Lernprozess – auch auf Papier, denn ich schreibe auch sehr gerne.
Zuletzt schrieben Sie das Drehbuch für den ORF-/Arte-Fernsehfilm Zwei gegen die Bank (2024). Was sind Ihre Pläne, kurzoder langfristig?
DO: Es ist ein kleines Wunder, dass es zum Fernsehfilm Zwei gegen die Bank kam. Ich habe es mit einem Kameramann gemeinsam entwickelt, und wir konnten es zusammen mit der wundervollen Produktionsfirma Gebhardt Production dem ORF schmackhaft machen. Und so konnte ich Caroline Peters, der persönlichen Heldin meiner Jugendzeit, und Daniela Golpashin, meiner Frau, die Rollen auf den Leib schreiben.
Ich trage den Wunsch, Originalstücke zu verfassen, bereits zehn bis 15 Jahre mit mir herum. Doch derzeit gibt es nur diese Bearbeitungsauswüchse, nur Überschreibungen. Wahrscheinlich haben wir im deutschsprachigen Raum kein Recht auf originäre Stücke, die einen unterhaltsamen Wert haben, es bleibt uns verwehrt, weil wir in diesem Leben politisch so viel verwirkt haben. Die Engländer haben so eine lange Tradition des „well made play“, wir müssen aber immer in die Tiefe gehen, in die Kritik und Selbstkritik, nach einer Salonkomödie aus Deutschland sieht es nicht aus.
Ich würde so gerne Originalstücke schreiben, keinerlei Zuschreibungen, keine Textflächen, einfach Schauspielern, Künstlerinnen zuschauen, wie sie Menschen aller Ethnien, aller Nationalitäten zum Leben erwecken.
„EIN LEHRSTÜCK OHNE LEHRE“
nannte Max Frisch sein Theaterstück Biedermann und die Brandstifter, das 1958 am
Schauspielhaus Zürich uraufgeführt wurde. Die Geschichte basiert auf früheren Arbeiten
Frischs aus den Jahren 1948 bis 1952. Die erste Prosaskizze stammt aus seinem Tagebuch
1946–1949 und erschien unter dem Titel Burleske als Reaktion auf die Machtübernahme
der Kommunisten in der Tschechoslowakei.
Für die deutsche Erstaufführung schrieb Max Frisch (1911–1991) ein Nachspiel, das in
der aktuellen Produktion am Theater in der Josefstadt auch gespielt wird. Der Dramatiker
nimmt darin Bezug auf die gesellschaftspolitische Entwicklung in der BRD der 1950erJahre, die eine Schonung ehemaliger Nazifunktionäre erkennen ließ. Daher erfolgte im
gleichen Jahr die Erstaufführung in Frankfurt am Main inklusive des Nachspiels.
Biedermann und die Brandstifter zählt neben Andorra und Don Juan oder Die Liebe zur
Geometrie zu den bekanntesten Theaterstücken des Schweizer Schriftstellers. In diesem
Stück der Stunde zeigt Frisch äußerst humorvoll, wie Fanatismus entsteht, und fordert
uns auf hinzuschauen. Es ist die scharfsinnige politische Parabel über bürgerliche Ängste
und nutzlose Strategien, sich mit dem Totalitären zu solidarisieren, um die eigene Existenz
zu schützen.
Inhalt: Gottlieb Biedermann, Urtyp des gut situierten und selbstgefälligen Bürgers,
ist beunruhigt von den Brandstiftungen, von denen die Zeitungen berichten. Trotzdem
lässt er zwei Unbekannte in sein Haus, obwohl sie von Anfang an erkennen lassen, es
anzünden zu wollen. Während Biedermann sich im wahrsten Sinne des Wortes „anbiedert“ – die beiden bewirtet, ihnen gegenüber Verständnis heuchelt und versucht, sich mit
ihnen zu solidarisieren –, schaffen diese unverhohlen ein Benzinfass nach dem anderen
auf den Dachboden.