Urbane Kibbuzim: Das Stadtleben verbessern

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Joav Stein aus der Kibbuzbewegung „Dror“ wohnt mit seiner Familie in einem Gebäude, das seine Kerngruppe gemeinsam erstanden hat.

Es ist die Zeit nach der ersten Coronawelle und kurz nach Öffnung des Lockdowns. Ora * möchte wegen Angstgefühlen und Depressionen einen Termin in meiner Klinik. „Ich kann Sie aber nur per Zoom treffen“, erklärt sie zu meiner Überraschung. „Es ist doch längst erlaubt, zu Behandlungen zu gehen“, erwidere ich fragend. „Ja, aber jemand in meinem Garin gehört der Risikogruppe an und ist sehr ansteckungsgefährdet, also kann ich noch nicht ausgehen.“
Mit Garin wird die Kerngruppe im Kibbuz bezeichnet, in dem Ora lebt. Es ist jedoch kein herkömmlicher Kibbuz, also kein landwirtschaftliches Kollektiv, sondern ein erst in den 1990er-Jahren gegründeter „Stadtkibbuz“ bei Hadera, etwa eine Stunde nördlich von Tel Aviv. Eine Gruppe von Zwanzig- bis Dreißigjährigen wohnt dort in einer Gemeinschaft zusammen, was in der Coronazeit den Vorteil hatte, dass alle Mitglieder trotz der strengen Bestimmungen zusammen sein durften, solange sie zu niemandem außerhalb in physischem Kontakt standen. In den „Karawanim“, ihren Mobilheimen, wurde gemeinsam gekocht, Kinder wurden geboren und gemeinsam versorgt, soziale Projekte wurden weitergeführt. Das Leben in so einer Gemeinschaft erwies sich in der Krise als unterstützend und beruhigend und als definitiv weniger einsam als das Leben der Städter, die oft alleine in ihren Wohnungen auf sich gestellt waren. Das Motiv für die Wahl dieser Lebensform ist aber eher ein ideologisches: Sie wollen die Welt verbessern, und eines ihrer wichtigsten Anliegen ist zu diesem Zweck die Optimierung der Erziehung in den sozioökonomisch schwachen Vierteln der Städte.

»Die Pioniere dieser Kollektive sind unsere Helden und unsere Inspiration, und unser Name ‚Dror‘ basiert
auf der Bewegung der Anführer des Aufstands
im Warschauer Ghetto.« 

Gilad Perry

Gleichzeitig haben die Stadtkibbuzim, von denen es mittlerweile mehrere Dutzend im Land gibt, viele Eigenschaften des ursprünglichen Kibbuzsystems übernommen. Während zwar Eigentum möglich und erlaubt ist, verwalten sie den Großteil ihrer Finanzen, insbesondere, was Wohnen, medizinische Versorgung und Fahrzeuge betrifft, gemeinsam. Das Budget wird mit staatlichen Zuwendungen und internationalen Spenden aufgebessert. Das macht das Leben für viele junge Israelis, für die eine Wohnungsmiete oder ein eigenes Auto beinahe unerschwinglich sind, einfacher.
Joav Stein aus der Kibbuzbewegung „Dror“ wohnt in einem Gebäude in Süd-Tel-Aviv, das seine Kerngruppe gemeinsam erstanden hat. Die Dror-Bewegung half mit und garantierte für den Bankkredit: „Die meisten Leute hier können sich mit Mitte Zwanzig keine eigene Wohnung leisten, aber wir konnten gemeinsam dieses schöne Haus kaufen. Bei uns steht einfach einer für den anderen ein. Auch wenn einmal einer von uns keine Arbeit hat, dann zahlen inzwischen die anderen für ihn, und das gibt einem eine gewisse Sicherheit.“
Der 39-Jährige kennt die Freunde aus der Kerngruppe, seit er zehn Jahre alt war: „Wir waren zusammen in der Schule, bei der ‚No’ar HaOved we Lomed‘ (der ‚arbeitenden und lernenden Jugend‘) und bei der Armee, und dann haben wir uns als Kibbuzgruppe zusammengeschlossen, um unsere Kinder gemeinsam aufzuziehen und Jugendlichen und ihren Eltern in unterprivilegierten Stadtteilen zu helfen.“ Der ausgebildete Pädagoge schwärmt von seinen eigenen Erlebnissen und Aktivitäten in der Jugendbewegung, von den Floßfahrten auf dem Kinneret, von den gemeinsamen Ausflügen mit anderen Jugendgruppen und vom Madrichim-Kurs, der Ausbildung für die zukünftigen Ausbildner und Leiter der Gruppe: „Wir wollen den Jugendlichen von heute auch solche Erlebnisse und Möglichkeiten bieten, wie wir sie bekommen haben!“
Was, wenn jemand, der nicht in so einer Jugendbewegung war, dazustoßen will? Das ist laut Joav Stein immer möglich, passiert aber selten: „Es gibt viele, die mitarbeiten, aber nicht wirklich Teil des Kibbuz sind und ihren Besitz nicht teilen. Aber das ist auch ok, wir sehen sie trotzdem als dazugehörig an.“ Jeder kann etwas beitragen oder etwas mitbringen, das er gut kann. So zum Beispiel Jack Grinwald, der in Akko Fahrräder repariert und aus alten Teilen neue Räder baut. Junge Städter, die sonst auf den Straßen herumlungern würden, kommen zu seiner Werkstatt, arbeiten mit ihm und sind selig, wenn sie dann ihren eigenen Drahtesel haben.

Das Leben in so einer Gemeinschaft erwies sich in der Krise als unterstützend und beruhigend und als definitiv weniger einsam.

Sinnvolles beitragen. Erziehung und soziale Verbesserung, oft mittels gemeinsamer Tätigkeiten wie Musizieren oder Hilfeleistungen für Bedürftige, aber auch durch eigene Schulen und Lehrerausbildung sind das Hauptanliegen der Dror-Bewegung. Gilad Perry, zuständig für die gemeinsamen Aktivitäten mit jüdischen Jugendlichen in Amerika und Europa, erklärt das so: „Bei den klassischen Kibbuzim und Moshavim standen Grund und Boden und die Landwirtschaft im Mittelpunkt. Die Pioniere dieser Kollektive sind unsere Helden und unsere Inspiration, und unser Name ‚Dror‘ basiert auf der Bewegung der Anführer des Aufstands im Warschauer Ghetto. Aber wir haben heute fast keinen Grundbesitz, unser Hauptanliegen ist ‚Tikun Olam‘ nach dem biblischen Ausdruck für die Verbesserung der Welt.“
Der passionierte Musiker und Pädagoge war 1998 bei der Gründung der ersten Dror-Kibbuzim in Eshbal und Akko mitbeteiligt und lebt heute mit seiner Familie in Dror-Akko. In Eshbal hat er damals mit seiner Gruppe ein Internat für schwierige Jugendliche aufgebaut: „Wenn wir etwas zum Guten verändern können und wenn zum Beispiel diese jungen Menschen ein gesunder Teil der Gesellschaft werden und nicht ins Verbrechen abgleiten, ist das ein enormer Sieg für uns! Viele von ihnen suchen heute einen Sinn in ihrem Leben und wollen etwas Sinnvolles zur Gesellschaft beitragen. In unserer Bewegung können sie zum Pionier werden, wie damals die Pioniere der Kibbuzim bei der Staatsgründung.“
Dror hat heute 16 Kibbuzim mit insgesamt 1.300 Mitgliedern und noch viele kleinere Gruppen, die inzwischen noch kein offizieller Kibbuz sind. Über 150.000 Kinder und Jugendliche werden derzeit von den Mitgliedern betreut, außerdem werden Seminare zu Themen wie Leadership, Demokratie und Dialog, Schoah, Erziehungsfragen und vielem mehr abgehalten. In ganz Israel gibt es vier verschiedene Jugendbewegungen, die derartige urbane Kibbuzim betreiben, und zahlreiche weitere inoffizielle Gruppierungen mit ähnlichen Zielen.

Vielleicht sind das ja Vorboten einer neuen Zeit: Einige Autoren aus dem Van Leer Jerusalem Institute (VLJI) in Jerusalem stellten kürzlich in der Tageszeitung Haaretz Überlegungen zur Zukunft unserer Gesellschaft an. Sie glauben an ein postmaterialistisches System, in dem nicht Konsum und Produktionssteigerung, sondern soziale Werte, ökonomische Sicherheit und Erziehung an erster Stelle stehen. Damit wären wir, so meinen sie, vielleicht besser ausgestattet für Pandemien und Krisen, die noch zu meistern sind.

* Name von der Redaktion geändert.

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