„Vergessen ist ein aktiver Vorgang, genau so wie Erinnern“

Die Schweizer Regisseurin Barbara Frey inszeniert Automatenbüffet aus der Feder der jüdischen Autorin Anna Gmeyner. Sie erzählt vom thematisch aktuellen Stück sowie über das beschämende Verhalten der Schweiz während und nach der Schoah.

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Barbara Frey, geboren 1963 in Basel, studierte in Zürich Germanistik und Philosophie. Ihre Karriere am Theater begann 1988 als Musikerin und Regieassistentin am Theater Basel, ab 1992 arbeitete Frey als Regisseurin, u. a. am Nationaltheater Mannheim und am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Von 1999 bis 2001 war sie Hausregisseurin an der Schaubühne am Lehniner Platz Berlin, 2005 bis 2008 in gleicher Funktion am Deutschen Theater Berlin. Wiederholt inszenierte sie am Bayerischen Staatsschauspiel in München und bei den Salzburger Festspielen. Ab der Spielzeit 2009/2010 und bis zum Ende der Spielzeit 2018/2019 war sie Intendantin des Schauspielhauses Zürich. Unter ihrer künstlerischen Leitung wurde das Schauspielhaus Zürich mehrere Male zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Während ihrer Zürcher Jahre inszenierte Barbara Frey an der Semperoper Dresden sowie immer wieder am Burgtheater Wien.© Lukas Beck

Wina: Mit Anna Gmeyners Automatenbüffet inszenieren Sie jetzt im Akademietheater das sozialkritische, tragikomische Volksstück einer fast vergessenen jüdischen Autorin. 1932 wurde dieses Erstlingswerk in Berlin und Hamburg und 1933 noch am Schauspielhaus Zürich erfolgreich aufgeführt. Wie entdeckten Sie Anna Gmeyner?
Barbara Frey: Auf das Stück hat mich der Dramaturg Andreas Karlaganis aufmerksam gemacht, der mit Martin Kusej in München gearbeitet hat, dann Chefdramaturg in Zürich war und nun am Burgtheater ist. Ich wurde hellhörig und neugierig, als er sagte, er hätte eine interessante, fast „vergessene“ Autorin entdeckt. Aber was heißt vergessen? Wir wissen ja alle, dass vergessen genauso ein aktiver Vorgang ist wie erinnern. Gmeyner wurde ja viel gespielt. Wenn man ein Stück das erste Mal liest, muss etwas hängen bleiben, entweder die Sprache als solche, der Plot, die Charaktere oder die Atmosphäre. Ich fand die Atmosphäre darin toll. Gmeyner ist eine sehr heitere Autorin, weil sie den Text manchmal plappernd volksnah bringt, aber eigentlich viel Tiefenpsychologisches darin verbirgt.

Mit Automatenbüfett gelang Gmeyner der Durchbruch als Dramatikerin. Was reizt Sie heute an dem Stück?
Mich interessiert dieser weibliche Fremdling, eine Art von Undine. Sie kommt ja aus dem Wasser (siehe Inhaltsangabe unten) in eine Gemeinschaft von Menschen, die eigentlich immer dasselbe tun, die in Konventionen verfangen sind, die Schwierigkeiten haben mit der Zeit, in der sie leben: einsame Menschen, manche ohne Beruf, ohne Arbeit.

»Wenn ein Text diese irrsinnige Unsicherheit der Menschen aufzeigt, die nicht wissen,
was noch kommt – wie wir jetzt durch die Pandemie ,
was kann noch aktueller sein?«

Barbara Frey

Sehen Sie eine Aktualität bei dieser Thematik?
Wenn mich, aus meiner Zeit heraus, etwas interessiert, dann ist das auf eine Art und Weise zeitgenössisch – und ich denke und fühle und handle ja aus meiner Zeit heraus, als Kind meiner Zeit, wenn Sie so wollen. Wenn ein Text, wie bei Anna Gmeyner, diese irrsinnige Unsicherheit der Menschen aufzeigt, die nicht wissen, was noch kommt – wie wir jetzt durch die Pandemie –, was kann noch aktueller sein? Es geht um Fragen nach Identität und nach der eigentlichen Aufgabe im Leben. Und: Gibt es einen Begriff von Gemeinsamkeit? In dem Stück hat man oft das Gefühl, jeder hängt für sich allein in der Eiger-Nordwand.
Diese von Adam gerettete Eva kommt da ohne großes Engagement in diese Männergesellschaft herein und wird zu einer zentralen Figur. Ich glaube, dass sie diese Männer in ihrer Not und ihrer Unzulänglichkeit erkennt, so wie sie sich ihrer eigenen Unzulänglichkeit bewusst ist. Eine Frau, die von keinem geliebt wird, braucht auch keinen Mann, um durch ihr Leben zu kommen.

Also ist sie eine emanzipierte Frau? Trägt der Text Ihrer Meinung nach autobiografische Züge?
Absolut, denn das wenige, das man über Anna Gmeyner weiß, zeigt, dass sie eine sehr unabhängige Frau war: im Denken und in ihrer gesamten Lebensausrichtung. Daher wird es ihr nicht schwergefallen sein, so eine Figur wie die Eva zu erfinden.

Barbara Frey übernahm im November 2020 für drei Jahre (Spielzeiten 2021–2023) die künstlerische Leitung der renommierten Ruhrtriennale. © Lukas Beck

Gmeyner wurde 1902 in Wien geboren und gehört mit einigen ihrer Zeit- und Leidensgenossinnen sowohl in die Kategorie Neue Sachlichkeit wie auch Exilliteratur. Sie haben auch Arbeiten anderer Schriftstellerinnen aus den 1930er-Jahren auf die Bühne gebracht. Faszinieren Sie die Schicksale der Frauen oder nur diese Geschichtsperiode?
Mich interessiert diese ganze Epoche, vor allem die Rolle der Schweiz. Als Schweizerin hat mich schon immer der Begriff beschäftigt, den Max Frisch in einem frühen Tagebuch als „das Unbehagen der Verschont-Gebliebenen“ beschrieben hat. Wie viele andere Schweizer Kulturschaffende hadere ich auch oft mit unserer Rolle im Zweiten Weltkrieg. Ich habe viele deutsche Freunde, die einen ganz anderen Bezug zu dieser Geschichte haben, auch meine Partnerin ist Deutsche. Ich empfinde es als Schweizerin auch ein wenig als Pflicht, ich sage mal als „Davongekommene“ sich gründlich damit auseinanderzusetzen, was die Schweiz sich da geleistet hat.

»Als Schweizerin hat mich schon immer der Begriff beschäftigt, den Max Frisch in einem frühen Tagebuch als‚ das Unbehagen der Verschont-Gebliebenen‘
beschrieben hat.«

Barbara Frey

Österreich war im Vergleich zu Deutschland extrem spät dran. Hat sich die Schweiz Ihrer Meinung nach mit diesem Thema bereits ausreichend auseinandergesetzt?
Wissen Sie, das ist so eine Sache mit der Schweiz. Ich erzähle ihnen etwas Persönliches dazu, weil mich das schon lange beschäftigt. Ich habe von meinem Vater relativ spät erfahren, dass sein Vater – also mein mir unbekannter Großvater, er starb vor meiner Geburt – ein Nazi-Sympathisant war: Er gehörte zu den 200 ausschließlich Schweizer Männern, die im November 1940 jene „Eingabe der 200“ an den Bundesrat verfassten, in der eine strenge Einschränkung der Pressefreiheit gefordert wurde. Das lief eigentlich auf eine Pressezensur hinaus – und längerfristig zielte es auf eine Zusammenarbeit mit den Nazis. Seit vielen Jahren beschäftigt mich der Gedanke, dass diese 200 Überzeugungstäter waren. Auch mein Vater hat diese Belastung zähneknirschend mit sich herumgeschleppt. Wie das halt in der Schweiz so ist, man redet ungern darüber.

Was geschah mit der Eingabe?
Laut Berner Bundesarchiv wurde eine Delegation empfangen, aber die Forderung abgelehnt. Obwohl die sozusagen „neutrale“ Schweiz insgesamt eine andere Haltung hatte als Österreich, konzentrierte sie sich eifrig auf Waffengeschäfte, und auch der „Judenstempel“ in den Pässen war eine Erfindung der Schweiz. Dieses Pragmatisch-Bürokratische ist so eine Schweizer Spezialität. Auch beim Verhalten in Zusammenhang mit den „nachrichtenlosen Vermögen“ – das ist schon als Ausdruck extrem peinlich – hat sich die Schweiz nicht mit Ruhm bekleckert, was die „Aufarbeitung“ angeht.

Anna Gmeyner studierte zuerst an der Universität Wien und war kurzzeitig mit dem österreichisch-jüdischen Biologen Berthold P. Wiesner verheiratet, mit dem sie 1926 nach Edinburgh ging. Nach der Trennung des Paars kehrte Gmeyner 1930 nach Berlin, später nach Wien zurück und arbeitete auch als Dramaturgin bei Erwin Piscator. Aus dieser Zeit soll es Lieder und Balladen von ihr geben, die u. a. von Hanns Eisler vertont wurden. Sind diese noch erhalten?
Ich kenne das Lied der Bergarbeiter, das Gmeyner während ihrer Zeit in Schottland den Kohlearbeitern gewidmet hat. Auf YouTube gibt es eine Aufnahme des Liedes, gesungen von Ernst Busch.

»Gmeyner ist eine sehr heitere Autorin, weil sie den Text manchmal plappernd volksnah bringt, aber eigentlich viel Tiefenpsychologisches darin verbirgt.«
Barbara Frey

Im Original soll das Automatenbüfett drei Akte sowie ein Vor- und Nachspiel haben. Mussten Sie wegen der Corona-Auflagen kürzen?
Wir haben Kürzungen vorgenommen, Personal aus dramaturgischen Gründen eingedampft, aber nicht wegen Covid.

Zu Beginn Ihrer Karriere waren Sie Musikerin und Schauspielerin, später wechselten Sie zur Theaterregie, auch zu Oper. Liegt ihnen die Oper?
Ja, die Oper liegt mir, aber manchmal finde ich die Bedingungen und die Abläufe an den Häusern zu schwierig. Ich fühle mich nicht frei. Ich habe gerade vor dieser Arbeit hier in Wien mit einem phantastischen Opernensemble an der Staatsoper Stuttgart eine Produktion fertiggestellt. An der Royal Shakespeare Company habe ich davor Peer Gynt geprobt mit diesen wunderbaren englischen Schauspielerinnen und Schauspielern – und dann kam das Covid-Fallbeil.

Sie übernehmen ab November 2020 für drei Jahre (Spielzeiten 2021–2023) die künstlerische Leitung der renommierten Ruhrtriennale, dem größten Kulturfestival in Nordrhein-Westfalen. Wird da noch Zeit für andere Projekte bleiben?
Die Ruhrtriennale verlangt einem alles ab: Die reine Anzahl der Produktionen für eine komprimierte Festivalspielzeit von sechs Wochen ist ein Mammutprogramm, das muss man als künstlerische Leiterin das ganze Jahr über planen. Die Prozesse dafür laufen ständig, das nimmt mein ganzes Team und mich voll in Anspruch. Wir möchten, dass wieder mehr Dinge vor Ort entstehen und die Menschen, die dort leben, intensiv teilhaben können. Und natürlich wird es Gastspiele und Koproduktionen mit anderen Festivals und Theaterhäusern geben.

Gmeyner kehrte nie nach Deutschland zurück, nachdem 1933 ihre Werke dort verboten wurden.© Ullstein Bild/picturedesk.com

Anna Gmeyner

kam 1902 in der Wiener Garnisongasse zur Welt. Das jüdische Elternhaus war großbürgerlich-liberal, der Vater Anwalt. Anna als älteste von drei Töchtern ist entschlossen, berühmt zu werden, daher schreibt sie ein Theaterstück und wünscht sich, dass es im Burgtheater aufgeführt wird. Später nutzt sie die Heirat mit dem Physiologen Berthold P. Wiesner zur Flucht aus dem Elternhaus. Doch Gmeyner will nicht bloß Hausfrau und Mutter sein. Sie reist nach Berlin und folgt ihrem Mann später nach Schottland, wo er an der Universität eine Stelle erhält. Auf Reisen lernt sie die prekären Arbeitsbedingungen der schottischen Kohlengrubenarbeiter kennen und verfasst das Stück Heer ohne Helden, zu dem Hanns Eisler das Lied der Bergarbeiter komponiert. Nach der Trennung von Wiesner lebt und arbeitet sie ab 1930 in Berlin, u. a. als Dramaturgin für Erwin Piscator, und ist Teil der künstlerischen und politischen Avantgarde. Gmeyner kehrte nie nach Deutschland zurück, nachdem 1933 ihre Werke dort verboten wurden. Sie zog 1935 von Paris nach London und heiratete dort den russischstämmigen Religionsphilosophen Jascha Morduch. In London und New York erschienen die Romane Manja und Café du Dome über das Leben im Exil in englischer Übersetzung. Von 1940 bis 1950 lebte sie mit ihrem Ehemann zurückgezogen in Berkshire. Nach dessen Tod begann sie wieder zu
schreiben und veröffentlichte unter dem Namen Anna Morduch mehrere englische Bücher (u. a. Biografien, religiöse Erzählungen und Lyrik). 1991 starb sie in einem Altenheim im englischen York.


Eva. Ein weiblicher Fremdling kommt aus dem Wasser in eine Gemeinschaft von Menschen, die Schwierigkeiten haben mit der Zeit, in der sie leben. © Matthias Horn/Burgtheater

Automatenbüfett

Die technischen Errungenschaften und das reaktionäre Bürgertum ihrer Zeit inspirierten Anna Gmeyner 1932 zu ihrem ersten Stück Automatenbüfett, mit dem sie auf den großen Bühnen in Hamburg, Berlin und Zürich Aufmerksamkeit erregte, bevor sie vor der nationalsozialistischen Verfolgung fliehen musste.
Zum Inhalt: Der etwas sonderbare Provinzbürger Adam verhindert gerade rechtzeitig, dass sich die unbekannte Eva in einem Teich das Leben nimmt. Er bringt sie ins Automatenbüfett, ein von seiner Gattin geführtes Restaurant, wo Speisen, Getränke und auch Musik auf Knopfdruck bestellt werden können. Unter der strengen Obhut Frau Adams treffen sich hier die Honoratioren der Stadt. Die Fremde entfacht sogleich die Fantasie der Männerrunde, und so wird es mit Evas Unterstützung für Adam ein leichtes Spiel, seine visionären Pläne zum Aufbau der Fischzuchtindustrie umzusetzen. Dem ersehnten wirtschaftlichen Aufschwung dürfte nichts im Wege stehen, doch mit Evas kalkuliertem Einsatz von Gefühlen entlarvt sich auch die Doppelmoral der örtlichen Verantwortungsträger.

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