Verschlingendes Monster

Gehüllt in blau-weiße Flaggen sagen sie vor Erdhügeln Kaddisch, zünden Gedenkkerzen an und singen die Hatikwa – mehrmals am Tag. Israelische Jugendliche auf Auschwitz-Tour, ein viel diskutiertes Thema. Für den israelischen Autor Yishai Sarid ist die Erinnerung an den Holocaust ein „Monster“, so der Titel seines neuen Romans.

1895
Yishai Sarid: Monster. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Kein & Aber, 176 S., € 19

Eigentlich wollte er nur ein ruhiges Leben führen und sich als Historiker mit möglichst fernliegenden Zeitaltern befassen, doch um seine kleine Familie finanziell besserzustellen, lässt er sich schließlich „vor den Karren der Erinnerung spannen“ und ergreift die akademische Laufbahn eines Holocaustforschers. Seine Karriere endet mit einem unerwarteten Kontrollverlust, einem Fausthieb in Treblinka. Wie es dazu kam, davon handelt der Bericht des Historikers an seinen Vorgesetzten, den Direktor von Yad Vashem, der ebenso namenlos bleibt wie der Ich-Erzähler, dessen lange Rechtfertigung den Roman ausmacht.
Durch die Arbeit an seiner Dissertation über Arbeitsmethoden deutscher Vernichtungslager wird er zum gefragten Experten für die Logistik der KZs und führt als Guide durch die polnischen Lager. Schülergruppen, Soldaten, Politiker mit ihrem Tross, Filmer und Touristen.
Für den „seelischen Bereich“ der Teenager, die verschiedentlich auf die geschilderten Gräuel reagieren, fühlt sich der Vernichtungsexperte nicht zuständig. Ihre Rituale, „all diesen Wohlfühlkram“, mit dem sie versuchen, „ihren Augen eine Träne abzuringen“, verachtet er mehr oder minder spürbar. Bei den begleitenden Lehren kommt seine mangelnde Empathie nicht gut an.

»Die Sache fesselte mich derart,
dass ich mich vor mir selber ekelte.«
Namloser Ich-Erzähler

Als sein Engagement intensiver wird, nimmt er sich schließlich eine Wohnung in Warschau und kommt immer seltener zu seiner Frau Ruth und dem kleinen Sohn nach Israel.
Und er gerät zunehmend in den Sog der Materie, der Details des industriellen Massenmords, die er auf seinen Touren scheinbar emotionslos schildert. Immer weniger kann er sich abgrenzen, bis er eines Tages am KZ-Gelände Stimmen der Opfer zu hören meint. Andererseits beobachtet er an sich und an vielen Besuchern eine Art perverse Faszination für die Perfektion der Nazis, den „Schneid“ der Bonzen, er wird süchtig nach den Fotos, den Dokumenten, den vielen grauenhaften Einzelheiten. Als er für die israelische Armee einen Bericht über das Lager Chelmno verfasst, wo die Tötungsmaschinerie erst in Entwicklung war, kann er seine Bewunderung für die deutsche „Innovationsfreude“ kaum verbergen. „Die Sache fesselte mich derart, dass ich mich vor mir selber ekelte.“

Präzision kontra Kitsch. Unbeantwortet bleiben für ihn selbst die Fragen, mit denen er die Jugendlichen und ihre Betreuer zu schockieren weiß: Was hättet ihr, was hätte ich damals getan? Hätte ich als Kapo oder im Sonderkommando mit den Mördern kooperiert? Wozu wäre ich fähig gewesen, um zu überleben? Hättet ihr als Soldaten desertiert?
Kein mikroskopischer Blick in die Mechanismen, keine noch so profunde Erkundung der Schauplätze, weder Statistiken noch das Studium der Quellen helfen bei der Beantwortung dieser Fragen, das zeigt Sarid, indem er gerade die Perspektive des Historikers, dessen penible Expertisen vor uns ausbreitet. Präzision kontra Kitsch, so arbeitet der Autor im Einklang mit seinem hilflosen Helden. Mit ihm entlarvt er die Rituale der Betroffenheit, das falsche Pathos, versteht die ohnmächtige Trauer, die nach Ausdruck sucht.
Unvorstellbar, unfassbar, ungreifbar bleibt der Holocaust auch nach Jahrzehnten der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Und er wird, wie der Erzähler erfahren muss, von vielen Seiten vermarktet und instrumentalisiert. Ein Start-up will ein KZ-Computerspiel entwickeln, eine israelische Delegation erkundet vor Ort Möglichkeiten einer militärischen „Show“, ein deutscher Filmregisseur manipuliert den erfahrenen Guide für einen zweifelhaften Streifen.
Es gibt kein gemeinsames Narrativ, kein kollektives Leid der Kriegsgeneration. Und auch die Nachkommen von Opfern und Tätern stehen auf verschiedenen Seiten der Geschichte – für immer. Auch das zeigt der kluge, wichtige, psychologisch feingesponnene Roman des israelischen Autors, der weder vor Tabus noch vor Monstern zurückschreckt.


ZUM AUTOR
1965 in Tel Aviv als Sohn eines Politikers geboren, war Yishai Sarid als Nachrichtenoffizier in der Armee tätig, studierte in Jerusalem und Harvard und arbeitet hauptberuflich als Rechtsanwalt. In seinem Politthriller Limassol thematisierte er die Methoden des israelischen Geheimdienstes und im Roman Alles andere als ein Kinderspiel skrupellose Grundstückspekulationen in Tel Aviv, wo der Autor mit seiner Familie lebt.

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