„Viele wissen nicht, was Judentum ist“

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Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde. Die Öffnung der Gemeinde ist ein permanenter Prozess./ © Katharina Roßboth / picturedesk.com

Der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde will der Bevölkerung zeigen, wie Juden in Österreich leben, er will Vorurteilen entgegenwirken. Von der EU fordert er ein Gesetz gegen Verhetzung, sagt er im Gespräch mit Margaretha Kopeinig.

wina: Herr Präsident, Ihre Arbeit kennzeichnen zwei zentrale Anliegen: Europa und der Kampf gegen Antisemitismus sowie die Öffnung der Gemeinde. Welche Bilanz ziehen Sie nach einem knappen Jahr an der Spitze der IKG?

Oskar Deutsch: Vor einem Jahr hätte ich mir nicht gedacht, wie stark und spürbar Antisemitismus in verschiedenen EU-Ländern ist. Antisemitismus, zum Teil auch Antizionismus, nehmen zu. Es gibt Antisemitismus im klassischen Sinne, er zeigt sich auch im Schächtverbot in Polen oder durch die immer wiederkehrende Debatte über ein Verbot der Beschneidung. Es gibt auch einen immer stärker werdenden Antisemitismus der radikalen Islamisten. Es ist meine Aufgabe, österreichische und europäische Politiker zu sensibilisieren. Deswegen reiste ich im Juni nach Brüssel, und es wird nicht meine letzte Reise gewesen sein.

wina: Welche Erfahrungen haben Sie in Brüssel gemacht?

OD: Ich habe sehr klar gesehen, dass viele EU-Abgeordnete nicht informiert sind. Es ist jetzt unsere Aufgabe, auch die des European Jewish Congress und anderer jüdischer Organisationen, Informationen zu geben, von der EU aber auch Taten zu verlangen.

wina: Ihnen ist die Öffnung der Gemeinde sehr wichtig. Was ist Ihr Ziel?

OD: Ich möchte der Bevölkerung zeigen, wie Juden in Österreich leben und was wir der österreichischen Gesellschaft anbieten können, um Vorurteilen entgegenzuwirken. Das gelingt uns unter anderem durch Tage der offenen Tür. Im Oktober gibt es wieder einen Tag der offenen Tür im Gemeindezentrum und in der Synagoge. Im letzten Jahr kamen 4.000 Besucher. Wir verstärken auch die Kulturarbeit, nicht nur für Gemeindemitglieder, sondern für alle Österreicher. Jeder ist eingeladen, an unserer Kultur teilzuhaben. Wir wollen auch vermehrt Schulklassen in die Zwi-Perez-Chajes-Schule, die Schule der Kultusgemeinde, einladen.

wina: Wie ist hier das Feedback?

OD: Sehr positiv. Ich habe gesehen, dass unser Angebot, eine offene jüdische Gemeinde zu sein, angenommen wird. Die Menschen sehen, dass das jüdische Wien Teil dieser schönen Stadt ist. Viele haben danach ein anderes Bild von einem Juden. Immer wieder wundern sich Menschen, dass sie in die Synagoge kommen dürfen. Ich sage immer zu den Besuchern, dass sie nicht nur am Tag der offenen Tür eingeladen sind, sondern immer, wenn die Synagoge offen ist. Sie können auch am Schabbat beim Gottesdienst dabei sein. Die Leute sind beeindruckt. Sie sehen, es gibt keinen Unterschied zwischen Juden und Nicht-Juden, der einzige Unterschied ist die Religion. Ich habe das Gefühl, dass viele nicht wissen, was Judentum ist, was ein jüdischer Mensch ist. Es ist höchste Zeit zu erleben, wie wir miteinander sehr, sehr gut auskommen und die Kultur teilen. Dazu gehört auch die Esskultur. Es gibt in Wien einige koschere Restaurants. Viele werden auch von Nicht-Juden besucht. Manchmal stehen vor dem Restaurant in der Seitenstettengasse Leute und fragen: Darf ich hinein? Es ist unsere Aufgabe, diese Schwellenangst abzubauen.

wina: Was ist Ihr Ausblick für das neue Jahr?

OD: Die Öffnung der Gemeinde ist ein permanenter Prozess. Ich möchte die Präsenz der Kultusgemeinde und ihre Aktivitäten in den Medien verstärken. Ich wünsche mir, dass Medien nicht nur Interesse an unseren politischen Aussagen haben, sondern auch an den Aktivitäten der Gemeinde und an dem, was sie zum kulturellen Leben beiträgt.

wina: Kommen wir noch einmal zur EU: Der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, und EU-Kommissarin Cecilia Malmström äußerten kürzlich in einem Kommentar für die FAZ: „In vielen Ländern erleben wir derzeit eine Zunahme von Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Nationalismus und Hass.“ Jeder fragt sich: Wann folgen Taten der EU?

OD: Wir fordern ein EU-Gesetz gegen Verhetzung. In Österreich haben wir ein Gesetz, in Großbritannien hingegen steht die Freiheit der Rede über dem Tatbestand der Verhetzung. Das geht nicht. Hassreden und Verhetzung dürfen nicht länger erlaubt sein. Auf Österreich bezogen: Es geht einfach nicht, dass FPÖ-Politiker einer Facebook-Plattform angehören, auf der sich rechtsradikale, antisemitische und antimuslimische Postings befinden. Es muss klar sein, dass eine Partei wie die FPÖ nicht an einer Regierung teilnehmen darf.

wina: Das ist eine klare Ansage für Koalitionsverhandlungen nach der Wahl am 29. September. Geben Sie eine Wahlempfehlung ab?

OD: Man soll nur nicht die FPÖ wählen! Das ist meine Wahlempfehlung. Es ist wichtig, die FPÖ aus der Regierung rauszuhalten. Es sind immer dieselben, die durch antisemitische Äußerungen auffallen. Deswegen fordere ich alle Parteien auf, klarzustellen, dass sie mit der FPÖ keine Koalition eingehen werden.

„Es ist höchste Zeit zu erleben, wie wir miteinander sehr, sehr gut auskommen und die Kultur teilen.“

wina: Jüngst sorgten antisemitische Karikaturen in einer deutschen Zeitung für Aufsehen. Jüdische Gedenkstätten werden zerstört, Rabbiner beschimpft und attackiert, Juden verlassen Ungarn, Schweden oder Frankreich. Was ist los in Europa?

OD: Ich weiß nicht, ob es nur die Wirtschaftskrise ist. Natürlich ist sie ein Auslöser, mehr als 50 Prozent der Jugendlichen sind in manchen EU-Staaten arbeitslos, das ist ein riesiges Problem. Wenn es einem schlecht geht, sucht man Sündenböcke. Leider waren das immer Juden. Wären andere Bevölkerungsgruppen betroffen, würde mich das auch sehr stören. Wenn man sich antisemitisch betätigt und Polizei sowie Justiz nichts dagegen tun, wird Antisemitismus salonfähig. Mit jeder neuen Tat wird das Problem größer. Bei jeder antisemitischen Äußerung müsste es sofort Konsequenzen geben. Politiker sind gefordert, etwas dagegen zu tun. Wie kann Europa ein Friedensprojekt sein, wenn nichts oder zu wenig gegen Verhetzung getan wird. Ich bin sehr zufrieden, dass das Europäische Parlament einen entsprechenden Bericht, betreffend Ungarn, vor dem Sommer angenommen hat.

wina: Nehmen antisemitische Vorfälle auch in Österreich zu?

OD: 2012 gab es im Vergleich zu 2011 nahezu eine Verdoppelung antisemitischer Vorfälle, die uns gemeldet wurden. Für 2013 ist aus derzeitiger Sicht mit keiner Entspannung zu rechnen. Österreich ist betroffen, aber bei weitem nicht so wie Ungarn, Schweden, Griechenland oder Frankreich. Hier ist die Situation alarmierend. Es gibt keinen Tag ohne Meldungen über antisemitische Äußerungen oder Vorfälle.

wina: Sehen Sie die Gefahr, dass nach Polen auch andere Länder ein Schächtverbot erlassen?

OD: Es wird untersucht, ob der Beschluss verfassungskonform ist, grundsätzlich gibt es Religionsfreiheit. Ich finde den Beschluss furchtbar, weil er dazu führt, dass Juden in Polen nicht leben können. Meine Angst ist, dass plötzlich nach Polen auch andere Länder ein Schächtverbot richtig finden.

wina: Die EU verlangt die Kennzeichnungspflicht für Waren, die aus der Westbank, Ost-Jerusalem oder den Golanhöhen kommen. Für diese Gebiete soll es auch keine EU-Förderungen geben. Erwarten Sie, dass sich Österreich dagegen ausspricht?

OD: Ich erwarte von der EU und von Österreich Fairness. Die EU hat keine ähnlichen Richtlinien für andere Gebiete in der Welt, die ebenfalls Gegenstand territorialer Streitigkeiten sind. Es gibt für die EU wichtigere Themen als die Kennzeichnungspflicht. Die EU soll sich mehr auf die großen Konfliktherde wie Syrien oder Ägypten konzentrieren und nicht auf das kleine Israel. Wenn Europäer immer Beschlüsse gegen Israel fassen, schließt sich Europa als Vermittler aus. Europäer sollten hier faire Vermittler sein, sie sind der Region viel näher als die Amerikaner.

wina: Tritt die EU parteiisch auf?

OD: In dieser Sache eindeutig.

„Irgendwann werden wir zu einem Frieden kommen, weil die Bevölkerung, die israelische und die palästinensische, Ruhe und Frieden für ihre Kinder will.“

wina: Wie bewerten Sie die österreichische Außenpolitik gegenüber Israel?

OD: Zuletzt hat sich Österreichs Dip-lomatie sehr in Richtung Pro-Palästinenser entwickelt, Österreich hat der Vollmitgliedschaft der Palästinenser in der UNESCO zugestimmt. Ich kritisiere das, es ist nicht fair gegenüber Israel.

wina: Israel wird zunehmend dämonisiert oder delegitimiert. Warum diese anti-israelische Stimmung?

OD: In Frankreich etwa haben sie viele arabische Kanäle, die negativ über Israel berichten. Internationale TV-Sender werden von Investoren aus dem arabischen Raum gesponsert. Die Ausgangsposition ist schwierig. Dabei will die israelische Bevölkerung nichts anderes, als dass ihre Kinder in Frieden aufwachsen und sie nicht mehr zum Militär gehen müssen. Das ist das Einzige, was die israelische Bevölkerung und im Übrigen auch die muslimische Bevölkerung Israels will. Man muss die israelische Position verstehen. Die Berichterstattung ist oft falsch: In den Medien heißt es, Israel beschießt Gaza, es wird aber nicht gesagt, dass zuvor Raketen von Gaza auf Grenzstädte in Israel gefeuert worden sind.

wina: Der Publizist Manfred Gerstenfeld hat errechnet, dass mehr als 150 Millionen Europäer in Umfragen Aussagen zustimmen wie „Israel will die Palästinenser auslöschen“. Er folgert daraus, dass 40 Prozent der Europäer antisemitisch eingestellt seien. Stimmt das?

OD: Ich kenne die Zahlen nicht. Eines ist klar: Kritik an Israel ist erlaubt. Dadurch ist man nicht Antisemit.

wina: Sind Sie optimistisch was die Friedensverhandlungen angeht?

OD: Jein, aber zu verhandeln, ist schon ein Fortschritt. Irgendwann werden wir zu einem Frieden kommen, weil die Bevölkerung, die israelische und die palästinensische, Ruhe und Frieden für ihre Kinder will. Dieser Wunsch der beiden Völker wird am Ende des Tages einen Frieden bringen. Es sitzen jetzt Verhandler, wie Tzipi Livni, am Verhandlungstisch, die einen Friedensvertrag wünschen. Als große Herausforderung gilt es, die Fragen Flüchtlinge und Jerusalem zu lösen.

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Tag der offenen Türen
Auch dieses Jahr lädt die IKG Wien zum Tag der offenen Tür in das Gemeindezentrum ein. Neben Führungen durch den 150 Jahre alten Wiener Stadttempel mit Gemeinderabbiner Schlomo Hofmeister gibt es ein Kantorenkonzert mit Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg und Schmuel Barzilai, einen Auftritt des Wiener Jüdischen Chors (Leitung: Roman Grinberg), Infos zu den Abteilungen der IKG Wien, zu den jüdischen Feiertagen, Weinver-kostung, Buffet, Bücher und vieles mehr.

13. Oktober 2013, 11–17 Uhr
Seitenstettengasse 4, 1010 Wien
Lichtbildausweis aus Sicherheitsgründen mitnehmen!
ikg-wien.at

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