„Vielleicht muss man ja den Lueger selbst auch ein bisschen absenken“

Bewegung kam diesen November wieder in die lange andauernde Debatte, wie am besten mit dem Monument für Karl Lueger umzugehen ist. Der Antisemitismus des früheren Wiener Bürgermeister ist seit Jahren vielen ein Dorn im Aug. Nun gab Wiens Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler (SPÖ) bekannt, dass das Denkmal mit einer künstlerischen Kontextualisierung versehen werden soll. Doch auch das scheint nicht in Stein gemeißelt: Die Grünen forderten daraufhin einmal mehr die Entfernung der Statue. WINA sprach mit dem Rektor der Akademie der bildenden Künste Wien, Johan F. Hartle, über das Lueger-Monument, Gegendenkmäler und den Umgang mit Geschichte.

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JOHAN F. HARTLE, geb. 1976 in Hannover, ist Philosoph und Kunstwissenschafter. Seit Herbst 2019 ist er Rektor der Akademie der bildenden Künste in Wien. Zuvor war er Professor für Kunstwissenschaft und Medientheorie sowie kommissarischer Rektor an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. ©Daniel Shaked

WINA: Wir standen eben vor dem Lueger-Denkmal. Es ist derzeit beschmiert, seitlich findet sich eine wenig präsente Erklärtafel. Es gab einen Wettbewerb, das Siegerprojekt schlug ein leichtes Kippen des Denkmals vor, dieses wurde aber nicht umgesetzt. Es gibt immer wieder Forderungen, das Monument zu entfernen. Inwiefern lässt sich gerade an diesem Denkmal die ganze Bandbreite an Möglichkeiten des Umgangs mit aus heutiger Sicht nicht mehr gewünschter Würdigung ablesen?
Johan F. Hartle: Bis jetzt sind die Möglichkeiten ja noch gar nicht ausgeschöpft. Das Einzige, was wir sehen, ist eine Kommentierung aus einer sozialen Bewegung heraus, die Bemalung mit dem Wort „Schande“. Ich finde es eigentlich ganz gut, dass das seit über einem Jahr in dieser Form besteht, weil es viel klarmacht und eigentlich schon eine Richtigstellung darstellt. Gleichzeitig hat man die Chance, wie das in Wien ja auch am Judenplatz beispielhaft geschehen ist, ein international relevantes Kunstprojekt auf die Beine zu stellen, mit dem auch ein Geschichtsbild revidiert und kontextualisiert wird, denn, um ehrlich zu sein, man wird auch in Wien nicht immer im Kaiserreich stehen bleiben können. Irgendwann muss man auch im Städtebau und in der Stadtgestaltungspolitik darüber hinauswachsen.

Sie haben nun gemeint, das Wort „Schande“, das mehrmals auf das Monument gesprayt wurde, ist schon sehr passend. Sind Sie also eher dafür, das Denkmal stehen zu lassen und richtig einzuordnen, oder sagen auch Sie, räumen wir es ganz weg?
I Das ist eine wichtige Kontroverse, und ich habe da keinen eindeutigen Standpunkt. Allgemein ist meine Haltung eher, dass man historische Ambivalenzen sichtbar lassen muss, das heißt, man muss Überschreibungen anbringen. Die Überschreibung muss in diesem Fall aber so deutlich sein, dass eine Ehrung in Zukunft nicht weiter möglich ist. Das ist ja auch von den Initiativen, die sich um die Kommentierung bemühen, sehr deutlich so formuliert. Ich habe versucht, verschiedene Motive, mit denen man ein Monument kommentieren, übermalen, überschreiben kann, miteinander zu vergleichen. Es gibt ein sehr interessantes Beispiel von Alfred Hrdlicka in Hamburg, wo ein Soldatenmonument durch ein Gegenmonument entkräftet wurde. Das ist ein sehr martialisches Soldatenbild im Sinn von „Deutschland soll leben, auch wenn wir sterben“. Hrdlicka hat mit verschiedenen Figuren und Motiven aus dem Kriegsschrecken diesen Lack angekratzt. Eine solche Überbauung halte ich für interessant, obwohl der Lueger-Platz vielleicht irgendwann überfordert sein wird, weil das Schönste an ihm ja in Wahrheit die Platane ist, die man auch sichtbarer machen könnte, als sie es jetzt ist. Es gibt aber auch sehr interessante Beispiele der Mediengestaltung, der Überschreibung mit Licht, mit digitalen Ergänzungen. Das Ernst-Thälmann-Denkmal am Prenzlauer Berg ist da ein sehr interessantes Projekt. Und von Jenny Holzer gab es eine leider nur temporäre Kommentierung des VölkerschlachtDenkmals in Leipzig, bei der mit Licht überschrieben und dadurch eine Kontextualisierung hergestellt wurde, durch die der maskuline, martialische und der nationalistische Gedanke der Völkerschlacht sozusagen ins rechte Licht gerückt wurden.
Das sind Herangehensweisen, die alle zur Verfügung stehen.

Rektor Johan F. Hartle: „Lueger ist kein Unschuldiger, und ihn zu ehren, ist das falsche Signal.“ ©Daniel Shaked

Auf diesem Platz wurde mit einer erklärenden Tafel gearbeitet, warum sieht man, dass das nicht funktioniert?
I Die Tafel ist einen halben Meter groß und versteckt sich hinter Lueger. Die liest nur, wer sie lesen will. Für alle anderen bleibt Lueger ein Prachtjunge aus der Geschichte des Kaiserreiches. Das ist nicht die Art und Weise, wie man Geschichte kontextualisieren sollte.

Auf dem Heldenplatz ist derzeit eine Freiluftausstellung zu sehen, die zeigt, dass die Radikalität in Bezug auf Antisemitismus mit dem „Anschluss“ schon eine ganz andere als in Deutschland war. Gerade Lueger hat den Antisemitismus hier gefördert – und in dieser Stimmung wurde Hitler sozialisiert, der sich Lueger auch zu seinem Vorbild nahm. Wie opportun ist es tatsächlich, so jemandem im Stadtbild derart prominent Raum zu geben?
I Das ist ganz klar: Lueger ist einer der wichtigsten Demagogen, eine der Schlüsselfiguren in der Geschichte des politischen Antisemitismus, und das nicht erst als Bürgermeister, sondern schon davor. Man kann das auch nicht damit relativieren, dass man sagt, oh, er musste, um das große Infrastrukturprojekt auf eine populäre Grundlage zu bringen, die Welle des Antisemitismus reiten. Das stimmt nicht, Lueger war auch davor bereits in hohem Maße Antisemit, etwa in der Interessenpolitik des Handwerkertums gegen Juden und Jüdinnen. Lueger ist kein Unschuldiger, und ihn zu ehren, ist einfach das falsche Signal.

Ein Ansatz ist, wie von Ihnen schon angesprochen, eine Gegenöffentlichkeit, ein Gegendenkmal zu schaffen. Wie müsste das bei diesem überdimensional angelegten Monument gestaltet werden, um überhaupt sichtbar zu sein?
I Vielleicht muss man den Lueger selbst auch ein bisschen absenken. Er könnte zum Beispiel nur noch mit dem Kopf zu sehen sein und in seinem eigenen Sockel verschwinden. Für mich ist völlig offen, ob das Denkmal in dieser Form überhaupt stehen bleiben kann. Vermutlich ist es in den Ausmaßen zu groß, um es noch kommentieren zu können. Wahrscheinlich muss man es tatsächlich ein bisschen demontieren. Aber diese Demontage könnte selbst ein künstlerischer Akt sein: dass man es buchstäblich zerlegt, so wie man Geschichte analysiert. Und das Analysieren ist eine Arbeit des Zerlegens. Das könnte ich mir ganz gut vorstellen.

„Die Komplexität eines zivilgesellschaftlichen Diskurses
wird auch durch künstlerische Projekte vorangetrieben,
und sie wird
auch durch künstlerische Projekte
dauerhaft in den öffentlichen

Raum eingeschrieben.“

 

Es gibt bereits als Ergebnis eines Wettbewerbs einen Entwurf, bei dem das Denkmal gekippt wird. Können Sie diesem etwas abgewinnen, oder ist er schon wieder passé?
I Ich finde den Entwurf ganz interessant, weiß aber gar nicht, ob das Kippen gereicht hätte, um das Monument in seiner Wucht auch zu dekonstruieren. Aber ich glaube, ihn jetzt nochmal hervorzuholen, würde der öffentlichen Relevanz und der internationalen Sichtbarkeit einen Abbruch tun, und man sollte ein neues Projekt starten.

Der Sturz der Denkmäler ist keine neue Entwicklung – es fielen Hitler-Statuen ebenso wie etwa kommunistische Büsten nach dem Fall der Mauer und dem Ende der DDR. Heute sind Monumente, die Herrscher oder Eroberer des Kolonialismus ehren, in der Kritik. Ist es tatsächlich sinnvoll zu versuchen, Geschichte auszuradieren?

©Daniel Shaked

I Meine Position ist in der Tat, dass Straßennamen und die Namen von Plätzen immer wieder geändert wurden und dass das relativ unspektakulär ist. In der Geschichte des wiedervereinigten Deutschland war das der Alltag, und es ist ein bisschen ironisch, wenn die konservativen Kräfte jetzt das Beibehalten von Namen von Plätzen und Straßen für die oberste Staatsraison halten. Hier gibt es eine gewisse Unaufrichtigkeit. Aber es stimmt natürlich, dass die Vergangenheit nicht einfach ausgelöscht werden kann und soll, sondern dass man aus ihr lernen und Aspekte davon neu bewerten muss. Und diese Art des Neubewertens findet vielleicht am sinnvollsten in der Auseinandersetzung mit dem tatsächlichen Monument statt.

War es im Rückblick nicht richtig, im Osten Deutschlands alle Marx- und Lenin-Büsten zu entfernen? Ist man hier heute einen Schritt weiter?
I Ich glaube, dass die Ambivalenz aus der Geschichte des Kommunismus, eines gescheiterten Emanzipationsversprechens, nicht einfach geleugnet und ignoriert werden kann, sondern dass die Auseinandersetzung damit wichtig bleibt, und das Gleiche gilt natürlich auch für andere Geschichtsstränge. Meiner Meinung nach ist in der Aufarbeitung des Realsozialismus sehr viel mehr Geschichtsarbeit passiert als zum Beispiel in der Aufarbeitung der sozialkonservativen Tradition, die offenbar bis heute mit einem Lueger noch zu wenig Probleme hat, um eine relevante Kommentierung in Gang zu setzen.

 

„Ich habe versucht, verschiedene Motive, mit denen
man ein Monument kommentieren, übermalen, überschreiben
kann, miteinander zu vergleichen.“
Johan F. Hartle

 

Hat das auch damit zu tun, dass bis vor Kurzem in der breiteren Wahrnehmung die Kontinuität des Antisemitismus völlig geleugnet wurde?
I Das ist ganz sicher so. Die Vorstellung, dass Österreich eine saubere, nicht koloniale, bürgerliche Weste hat, die dann durch externe, radikale Elemente beschädigt worden sei, hält sich relativ hartnäckig und ist natürlich nicht zutreffend.

Die aktuellen Debatten zeigen eines: Geschichte ist nichts Statisches, der Blick in die Vergangenheit wird vielmehr immer wieder einer neuen Bewertung und Analyse unterzogen. War dies immer schon so, oder läuft da gerade ein Paradigmenwechsel ab?
I Die Vorstellung, dass die Geschichte die Geschichte großer Männer ist, die ist nicht richtig. Die ist schon lange falsch. Es gibt natürlich sozialgeschichtliche Strömungen, die das auch schon davor problematisiert haben. Aber ein Einzelmonument von einem Einzelbürgermeister, der dazu noch ein politischer Demagoge sondergleichen gewesen ist, zeugt schon von einem absurden Geschichtsbild, das in der Tat zu demontieren und auch einzubetten ist in die tatsächliche Leidensgeschichte derjenigen, die historisch aktiv gewesen sind, und in die historischen Bewegungen, die die tatsächlichen Ereignisse vorangetrieben haben.

Wie weit ist man mit der Demontage des Geschichtsbildes? Ist das noch eine Elfenbeinturmdebatte, oder sehen Sie schon eine Verästelung in die ganze Gesellschaft?
I Ich bin kein Historiker und überlasse die Debatte den Historiker:innen, Kulturhistoriker:innen und Sozialhistoriker:innen. Aber es ist ganz sicher so, dass es alternative Geschichtserzählungen gibt und dass die imperiale große Geste der auf Einzelpersönlichkeiten fixierten Geschichtserzählung zunehmend zerstäubt.

Kunst und Kultur, der Bereich, den Sie repräsentieren, ist gerade ein Bereich, der zur Verherrlichung von historischen Personen beigetragen hat. Was können Kunst und Kultur heute beitragen, um zu dekonstruieren?
I Die Komplexität eines zivilgesellschaftlichen Diskurses wird auch durch künstlerische Projekte vorangetrieben, und sie wird auch durch künstlerische Projekte dauerhaft in den öffentlichen Raum eingeschrieben. Insofern ist das, was mit Rachel Whitereads öffentlicher Installation, ihrem Monument am Wiener Judenplatz passiert ist, modellhaft für das, was Kunst leisten kann, nämlich Mahnmale auch ambivalenter und alternativer Geschichtserzählung zu erzeugen.

Ist es ein Sinnbild unserer Zeit, dass heute eher Mahnmale aufgestellt werden als Huldigungsstatuen?
I Es wäre natürlich traurig, wenn es nicht auch Erfolgsgeschichten gäbe, auf die wir stolz sein können. Vielleicht werden wir in ein paar Jahrzehnten denjenigen, die es geschafft haben, im Rahmen der Klimabewegung wesentliche Elemente des Planeten zu retten, auch Denkmäler setzen und auf sie stolz sein. Vielleicht befinden wir uns momentan tatsächlich eher in der Aufarbeitung von Traumata und Schäden als in der Möglichkeit, emanzipatorische und zukunftsweisende Projekte zu würdigen und zu setzen.

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