Visionär oder am Rande des Wahnsinns

In seinem Band Kreisky, Israel und die Juden porträtiert der junge israelische Diplomat und Historiker Daniel Aschheim den österreichischen Jahrhundertkanzler als Kämpfer für den Frieden.

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Daniel Aschheim: Kreisky, Israel und die Juden. Redaktionelle Bearbeitung: Eric Frey. Ecowing 2025, 208 S., € 28

Wie jung muss man sein, um noch nie etwas von Bruno Kreisky gehört zu haben?

Nun, Daniel Aschheim ist 1988 in Jerusalem geboren und erst als Student an der Hebräischen Universität durch den österreichischen Historiker Günter Bischof auf das Phänomen Kreisky gestoßen. Sein Interesse war geweckt, und er begann zu recherchieren. Das Ergebnis seiner langjährigen Forschungen liegt jetzt auch in deutscher Übersetzung in einem Buch vor, das keine weitere Kreisky-Biografie sein will.

Zunächst eine kleine familiäre Erinnerung an den Kanzler, der die 70er-Jahre in Österreich prägte und erregte wie kein anderer.

Ein freundlicher älterer Herr mit Schnurrbart kam regelmäßig zu uns nach Haus. Nachdem er am Esszimmertisch Platz genommen, etwas zu trinken bekommen und mit meinen Eltern kurz über die österreichische Innenpolitik geplaudert hatte, holte mein Vater ein kleines rotes Büchlein hervor, und der Besucher klebte eine Marke hinein. Natürlich nachdem zuerst der Obolus an die Sozialistische Partei in bar erlegt wurde. Als „Fabrikant“ zahlendes SPÖ-Mitglied zu sein, darauf war mein Vater stolz, und soziales Verhalten war Teil unserer Erziehung. Als Jude hatte er mit dem jüdischen Kanzler aber zunehmend Probleme, die während der „Wiesenthal- Affäre“ in heller Empörung über Kreiskys Verhalten und schließlich mit dem dramatischen Parteiaustritt meines Vaters beim schnurrbärtigen Parteikassier gipfelten.

 

Sein Judentum hat Kreisky nie verleugnet,
zum jüdischen Volk wollte er aber nicht gehören.

 

Als derartig geprägte Zeitzeugin betrachtet man das Buch eines vom Nachkriegsösterreich zeitlich und örtlich entfernten jungen israelischen Diplomaten vorerst mit einiger Skepsis. Doch vielleicht bedurfte es dieser Distanz, um die nicht gerade unbekannten Aspekte der ebenso faszinierenden wie widersprüchlichen Politikerpersönlichkeit neu zu beleuchten. Dazu konnte der israelische Historiker auch bisher unveröffentlichte Quellen der diplomatischen Korrespondenz aus dem israelischen Staatsarchiv erschließen. Was israelische Botschafter wie etwa Avigdor Dagan meist besorgt über Kreisky und seine Aktivitäten aus Wien ins israelische Außenamt telegrafierten, ist rückblickend durchaus aufschlussreich.

„Kein Glas Wasser“ und die Folgen Rückblickend erweist sich auch Golda Meirs Versuch, Kreisky persönlich von der Schließung des Lagers für sowjetisch-jüdische Flüchtlinge in Schönau nach der Geiselnahme von Marchegg abzubringen, als fatales Timing. Goldas Besuch beim Kanzler endete am 2. Oktober 1973 mit einem Eklat, von dem nicht viel mehr blieb als die gern zitierte „Affäre“. Im Gegensatz zu Kreiskys Behauptung, er hätte ihr Kaffee, Kuchen und sogar eine Dusche angeboten, blieb die Premierministerin bei der Version „kein Glas Wasser!“. Wütend aus Wien abgereist, landete sie tags darauf in Israel, und am 6. Oktober, Jom Kippur, fanden sie die arabischen Angriffe relativ unvorbereitet. Waren der Marchegg-Anschlag und seine Folgen also nur ein Ablenkungsmanöver, und was wusste Kreisky von den Kriegsvorbereitungen? Dazu gibt es mehr Spekulationen als Fakten, fest steht aber dessen nachhaltige Wirkung auf die Beziehungen zwischen Kreisky und Israel und die Geschichte des Terrorismus, denn mit seiner Kapitulation vor den Terroristen hatte der Kanzler diesen „auf internationaler Ebene die Tür geöffnet“, wie Ilan Knapp zitiert wird.

Kreiskys Rolle im und seine Sicht auf den Nahostkonflikt, von vielen als visionär oder sogar prophetisch beurteilt, wird aus zionistisch-jüdischer Perspektive weitaus kritischer und in Zusammenhang mit seiner ambivalenten, konfliktreichen Beziehung zu seiner jüdischen Herkunft gesehen. Sein Judentum hat er, obwohl bereits als 16-Jähriger aus der Gemeinde ausgetreten, nie verleugnet, zum jüdischen Volk wollte er aber nicht gehören. „Wenn die Juden ein Volk sind, so ist es ein mieses Volk“, so ein berühmt-berüchtigter Kreisky-Sager. „Ostjuden“ verachtete der Sproß kultivierter großbürgerlicher Juden, der den Holocaust im schwedischen Exil überlebte, nachdem er die Wiener Gestapo-Haft auch mit Nationalsozialisten geteilt hatte. Simon Wiesenthal, der die Nazivergangenheit von Friedrich Peter und anderen Ministern in Kreiskys Kabinett aufdeckte und anprangerte, war für ihn nicht zuletzt als „Ostjude“ ein Feindbild.

Ambivalenzen Alle diese Fakten und Zusammenhänge, Kreiskys komplexe Identität als überzeugter, leidenschaftlicher Österreicher mit „jüdischer Physiognomie“, seine Haltung zum Antisemitismus, seine erklärte Ablehnung des Zionismus und seine letztlich auch widersprüchliche Haltung zu Israel, wo sein Bruder lebte und sein Neffe in der Armee diente, sind längst bekannt und dokumentiert. Sie lassen sich mit dem Begriff „Ambivalenz“ nur unzureichend erklären, ohne „in den Bereich der psychologischen Forschung vorzudringen“, was Daniel Aschheim als gelernter Historiker aus gutem Grund ablehnt. Neben archivalischen Recherchen setzt er vor allem auf Interviews mit persönlichen Weggefährt:innen, wie Kreiskys Sekretärin Margit Schmidt, seinen Sekretären Wolfgang Petritsch und Thomas Novotny und der dem Menschen Kreisky besonders nahestehenden Diplomatin Barbara Taufar, die sein Porträt eher mit dem Weichzeichner malen.

Kreiskys zuweilen irrationales und paranoides Verhalten in Bezug auf die sensiblen Themen Judentum und Israel, „am Rande des Wahnsinns“ hat es ein israelischer Diplomat beschrieben, sei, so Aschheim, nur die halbe Wahrheit. Jede Bilanz müsste „viele positive Aspekte enthalten“, und um diese scheint der Autor besonders bemüht. „Als Kämpfer für den Frieden“ erhält der weltgewandte Politiker aus der Distanz von einem halben Jahrhundert quasi seinen historischen Koscher-Stempel. Die Schwierigkeiten der jüdischen Gemeinde Österreichs mit ihrem abtrünnigen Sohn, die auch Eric Frey in seinem Vorwort anspricht, gehören offenbar einer weniger bedeutenden Geschichte an.

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