„Das Volk Israels hatte nie nur eine einzige Farbe“

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Es waren die Gewalt der Polizei und alltägliche Diskriminierung, die Tausende wütende äthiopischstämmige Mitbürger auf die Straßen Israels mobilisierten. Die eskalierenden Demonstrationen zeigten auf, wie tief der soziale Riss zwischen Israel und dieser Gemeinde tatsächlich ist. Gadi Yevarkan, einer der Anführer der Protestbewegung, möchte trotz der langjährigen Frustration das Land, von dem er als Kind immer geträumt hat, auf keinen Fall aufgeben. Interview: Itamar Treves-Tchelet

WINA: Herr Yevarkan, bis Sie neun Jahre alt waren, lebten Sie in Äthiopien. Welche Vorstellungen von Israel hatten Sie damals?

Gadi Yevarkan: So wie jede jüdische Person auf der Welt, die über die Rückkehr nach Zion nachdenkt, waren wir sicher, dass alle Juden in Äthiopien nach Israel kommen werden, um dort ohne Angst zu leben. Es war einfach Zionismus in seiner stärksten Form. Sogar Kinder, die gerade reden gelernt hatten, konnten „Jerusalem“ bereits sagen – oft als erstes Wort noch vor „Mama“ oder „Papa“. Dass es auch weiße Juden geben könnte, haben wir uns gar nicht vorgestellt.

„Dass es auch weiße Juden geben könnte, haben wir uns gar nicht vorgestellt.“

1991 wurden Sie dann im Rahmen von Operation Salomon nach Israel gebracht. Wie fühlte es sich an?

❙ Kein Dichter kann dieses Gefühl beschreiben. Alles, was uns vorher als Mythos aus diesen 2.500 Jahren im Exil bekannt war, wurde plötzlich real. Und das in unserer Generation! Es war wie ein Traum. Mit der Zeit realisierst du natürlich, dass viele Juden aus Europa und den USA enormen Druck auf die israelischen Regierungen ausgeübt haben und dafür reichlich gespendet haben, um uns ins Land zu holen. Diese Wohltat berührt mich bis heute sehr.

Die heutige Protestbewegung zeigt aber deutlich, dass die Integration der äthiopischen Juden nicht gut gelungen ist. Was ging schief?

Aus der Sicht der Regierung war unsere Alija eher ungeplant. Denn es gab einige Entscheidungsträger, denen Juden aus bestimmten Ländern – Äthiopien war ganz bestimmt nicht dabei – zu holen wichtiger war. Dies hatte eine benachteiligende Wirkung auf uns. Dazu kommt eine Reihe von schlechten Entscheidungen des Staates, die unsere Integration weiterhin erschwerten. Leider haben wir das starke Gefühl, dass unsere Armut von unterschiedlichen Organisationen und der Regierung ausgenützt wird, um Spenden aus dem Ausland zu sammeln. Dabei wird das Geld oft für völlig andere Zwecke ausgegeben. Dies könnte dazu geführt haben, dass der Staat weniger Verantwortung für unsere Situation übernommen hat. So wird unsere Ausgrenzung nur verewigt. Ich sage aber nicht, dass man nicht mehr spenden soll. Man sollte einfach die Augen dafür offen halten, was mit dem gespendeten Geld tatsächlich passiert.

Wie kann der Protest 2015 die Situation verändern?

Gadi Yevarkan.  Anführer der Protestbewegung.
Gadi Yevarkan.
Anführer der Protestbewegung.

❙ Die Demonstranten von heute sind gebildete Menschen, Studenten, Anwälte, Offiziere in der Armee. Menschen, die Verantwortung für ihr Land übernehmen. Sie wollen all jenen, die sie noch als Äthiopier bezeichnen, klar machen: „Äthiopier gibt es nur in Äthiopien. Wir sind I-s-r-a-e-l-i-s!“ 90 % der israelischen Bevölkerung mangelt es noch an dieser Terminologie. Sie haben einfach die Nase voll von dem, was ihre Eltern durchleben mussten. Sie lieben das Land, wollen aber eine gerechte Gesellschaft mit den gleichen Rechten wie alle anderen. Es kann sein, dass wir für uns selbst nichts erreichen werden, aber für die nächsten Generationen schon. Ganz egal welcher Hautfarbe. Das Volk Israel hatte ja nie nur eine einzige Farbe.

Gleichzeitig erreichten die Unruhen in Baltimore ihren Höhepunkt. Und auch hier: Die Gewalt der Polizei gegen Dunkelhäutige war der Auslöser.

❙ Ja. Der Rassismus ist zwar der gleiche, allerdings sind wir als freie Menschen nach Israel gekommen und nicht als Sklaven. Darum sind die beiden Narrative kaum vergleichbar. Man kann aber sagen, dass unser Protest als präventive Maßnahme verstanden werden kann, damit es kein Baltimore in Israel geben wird.

Welche Lösungen werden nun von Ihnen vorgeschlagen?

❙ Wir haben die Gründung eines neuen Fonds vorgeschlagen, in dem unsere Gemeinde mitentscheiden darf, wohin das Geld geht. Somit könnte man beispielsweise einem jungen Paar helfen, eine Wohnung in einer besseren Gegend zu finden, und ihnen und ihren Kindern damit endlich den sozialen Aufstieg ermöglichen. Wir wollen auch die Geschichte der Juden aus Äthiopien in die Lehrbücher integrieren: So wie ich die Geschichte der europäischen Juden kenne, möchte ich, dass die Menschen wissen, wie Abba Mahari bereits 1862 die erste äthiopische Alija durch die sudanesische Wüste führte, bis seine Leute am Roten Meer an ihrer Mission scheiterten. Theodor Herzl war übrigens zu dieser Zeit gerademal zwei Jahre alt.

F150503TN029Hintergrund
Heute leben mehr als 130.000 Juden äthiopischer Abstammung in Israel. Ein Drittel ist im Lande geboren. Die Mehrheit wohnt in der Peripherie und gehört der unteren sozialen Schicht an. Vor allem die ältere Generation, die sich auf Grund kultureller und sprachlicher Lücken weniger integrieren konnte. Studien aus den letzten Jahren haben gezeigt, dass trotz Integrationsschwierigkeiten und dem Gefühl von Diskriminierung mehr und mehr äthiopischen Juden der soziale Aufstieg gelang. Allerdings langsam.

Bilder: © flash 90

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