Voller Geheimnisse

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Der Währinger Friedhof, Zeuge jüdischen Lebens in Wien vor 200 Jahren, ist ein morbider, von Zerstörung gekennzeichneter, dennoch idyllischer Ort. Von Alexia Weiss

W olf-Erich Eckstein, Leiter des Matrikenamts der IKG, machte im August des vergangenen Jahres eine aufregende Entdeckung: Auf dem Währinger Friedhof fielen ihm Reste eines Grabmonumentes ohne Namen oder Daten auf, jedoch mit einer Inschrift, die auf einen jung verstorbenen Mann hinwies. Seine Recherchen ergaben: Hier dürfte Anton Strauss begraben worden sein, dessen Witwe Adele sich in zweiter Ehe mit einem weltbekannten Strauss verheiratete – dem „Walzerkönig“ Johann Strauss Sohn. Dieser nahm sich auch Anton und Adeles Tochter Alice an.

Um eine Heirat möglich zu machen, traten beide zum Protestantismus über. Alices jüdische Herkunft sollte allerdings viele Jahre später, im Jahr 1939, zu einer Hetzkampagne unter dem Titel Jüdische Erbschleicher im Stürmer führen, das Vorspiel zur späteren Enteignung der Erbin, die über eine Menge an Strauss-Memorabilia verfügte.

Anton Strauss liegt heute nicht mehr am Währinger Friedhof. Ebensowenig seine Mutter Wilhelmine und seine im Alter von nur vier Jahren verstorbene Schwester Hermine. Alle drei Leichname wurden im August 1941 auf privates Betreiben hin exhumiert und auf dem Wiener Zentralfriedhof wiederbestattet.

Geheimnisse wie dieses hat der Währinger Friedhof viele zu bieten. Doch nicht alle werden jemals gelüftet werden können. 1780 beschloss die Stadt Wien, das Anlegen neuer Gräber nur mehr außerhalb des heutigen Gürtels zuzulassen, erzählt Eckstein. So wurde 1784 der Währinger Israelitische Friedhof auf einem Areal von 5.505 Quadratmetern eröffnet. Drei Mal wurde erweitert: 1833 um 5.158 Quadratmeter, 1835 um weitere 1.983 Quadratmeter und 1856 schließlich um 10.165 Quadratmeter. Der Friedhof umfasste damit eine Fläche von etwas über 22.800 Quadratmetern.

Ab 1879 wurden neue Gräber nur mehr am Zentralfriedhof angelegt. Die letzte dokumentierte Belegung eines bereits vorhandenen Familiengrabs in Währing datiert aus dem Jahr 1911. Damals wurden – eigentlich im Judentum gar nicht vorgesehen – zwei Urnen bestattet.

Tausende namenlose Bestattete

Zwischen 1784 und 1875 starben in Wien laut den Sterbebüchern der IKG an die 28.000 Menschen, unter ihnen auch viele Kinder, die oftmals keinen eigenen Grabstein erhielten. Dennoch ist immer noch oft von 8.593 Bestatteten am Währinger Friedhof die Rede. Woher kommt diese Zahl?

Eckstein spricht hier von einer Fehldeutung. Kurz nach der Jahrhundertwende war der damalige Archivar der IKG, Pinkas Heinrich, von der Kultusgemeinde damit beauftragt worden, ein Gräberbuch anzulegen, das alle Grabsteine erfassen sollte, um die Korrektheit der Inschriften zu überprüfen. Erst damals nahm Heinrich eine nachträgliche Nummerierung der Steine und Einteilung in 21 Gruppen vor. Wie viele Personen hier also tatsächlich bestattet wurden, wird ewig unklar bleiben. Und ebenso, wie viele noch bestattet sind.

Das Idyll des Friedhofs trügt: Vandalen und Dachse haben in den letzten Jahren zu schweren Schäden geführt.

Das wiederum hat mit den drei Exhumierungswellen in der NS-Zeit zu tun. Die erste ist noch gut dokumentiert und damit nachvollziehbar. Man schrieb das Jahr 1941. Die IKG hatte zwar andere Sorgen, dennoch wusste man, dass dem Friedhof die Zerstörung drohte. Man erstellte eine Liste mit Gräbern bedeutender Persönlichkeiten, deren besonderer Schutz empfohlen wurde. Unter den 118 Namen befanden sich Mitglieder der Familien Arnstein, Biedermann, Brandeis-Weikersheim, Epstein, Herz, Hofmannsthal, Leidesdorf, Lewinger, Liebenberg, Oppenheimer, Pope, Sichrowsky, Todesco, Wertheim, aber auch die Rabbiner Ruben Baruch, Moses Henoch Berliner, Lazar Horwitz und Isak Noa Mannheimer.

Nicht alle von ihnen wurden schließlich umgebettet. Insgesamt sind 127 Exhumierungen festgehalten, 65 davon auf Betreiben der IKG, 62 auf Initiative von Angehörigen. In diese Kategorie fällt auch die Entnahme und Wiederbestattung von Anton Strauss. Dafür setzte sich eine Pauline Lippmann ein. Sie wurde kurz darauf nach Kowno deportiert und dort ermordet. In welcher Beziehung sie zur Familie Strauss stand, ist bis heute unklar.

Wie viele Personen hier tatsächlich bestattet wurden, wird ewig unklar bleiben.

Weit grobschlächtiger lief die zweite Exhumierungswelle Ende 1941 ab. Hier ging es darum, etwa ein Achtel des Areals, angrenzend an die Döblinger Hauptstraße, raschestmöglich zu räumen. An dieser Stelle befindet sich heute der Schnitzler Hof. In nur drei Wochen wurde mit Baggern Erdreich mit den Überresten von an die 2.000 Bestatteten ausgehoben, unter anderem am Yppenplatz und Westbahnhof zwischengelagert, die Knochen mehr recht als schlecht aussortiert und schließlich ohne Beschriftung am Zentralfriedhof bestattet, erzählt Eckstein.

Jüdische Leichname zum Zweck der NS-Rassenforschung

1942 bis 1943 fand schließlich die dritte Exhumierungswelle statt. Rassenforscher hatten der IKG ihre Wunschliste übermittelt, um Skelette verstorbener Juden
vermessen zu können. Mehrere hundert Namen fanden sich darauf, darunter auch viele von Kindern, deren Leichen sich allerdings schon völlig zersetzt hatten. Schließlich gingen Überreste von an die 300 Bestatteten an die NS-Wissenschafter. Davon zeugen jedenfalls die Inventarnummern in dieser Höhe.

1947 wurden allerdings lediglich die in 222 Kartons enthaltenen Überreste bestattet. Wo sind die 80 restlichen geblieben? Auch dieses Geheimnis wird wohl nie mehr gelüftet werden.

All dieses Wissen lässt das Idyll, das der Währinger Friedhof ausströmt, in anderem Licht erscheinen. Seit 1999 ist er übrigens nicht mehr öffentlich zugänglich – Dachse hatten zuvor das Gelände umgegraben und für Zerstörungen gesorgt. Danach fanden auch Vandalen einen Weg über die Mauer in das Areal und konnten sich, da der Friedhof geschlossen war, ungestört austoben.

Beschlossen ist zwischenzeitlich nun die Sanierung des Friedhofswärterhauses, das von Joseph Kornhäusl entworfen wurde, und die Einrichtung eines Info-Points. Damit ist ein Eintauchen in diese versunkene Welt hoffentlich bald wieder ungehindert möglich.

Literatur Tipp:

Tina Walzer
Der jüdische Friedhof Währing in Wien
Böhlau Verlag, 196 S. € 29,90
Martha Keil (Hg.)
Von Baronen und Branntweinern. Ein jüdischer Friedhof erzählt
Mandelbaum Verlag, 112 S. € 24,90

 

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