Vom Hunger und vom Erfolg

Überwältigend: Barbra Streisand, die noch 2011 ausschloss, jemals über sich zu schreiben, legt eine enorm detaillierte, unterhaltsame Autobiografie vor.

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© mptv / picturedesk.com

Was die großen Heroinnen und Heroen des US-Showbusiness in jüngster Zeit vorlegten an Lebensrückblicken, von Al Pacino zu Barbra Streisand und, im nächsten Frühjahr auch auf Deutsch zu lesen, Cher, sind allesamt Geschichten und Weltkarrieren, die so niemals mehr passieren werden. Es sind alles Aufstiegsgeschichten. Bei Pacino, Jahrgang 1940, aus der South Bronx, bei der um zwei Jahre jüngeren Streisand, die in den 1940er- und 1950er-Jahren von ihrer Mutter großgezogen wurde – ihr Vater Emanuel starb, als sie fünfzehn Monate jung war –, aus Williamsburg, Brooklyn, wo ihre Familie zu fünft längere Zeit in einer Einzimmerwohnung lebte (und ihre Lieblingspuppe eine Thermoskanne mit Wollkappe war). Und etwas anderes kommt dazu, das noch Entscheidendere. Welcher aufsteigende oder bereits aufgestiegene Star der Gegenwart wird am Ende auf eine Karriere wie Streisand zurückschauen und davon erzählen, die über 65 (!) Jahre umfasst und in der sie mehr als 150 Millionen Tonträger verkaufte, wovon 57 Gold-Alben und 13 MultiPlatin-Alben waren?!

Barbra Streisand: Mein Name ist Barbra. Aus dem Englischen von Raimund Varga. Luftschacht 2024,
1.172 S., 46,95 €

Humor durchzieht ihre Memoiren. Schon der Auftakt ist bezirzend selbstironisch. Da zitiert sie Kritiken aus ihrer frühen Anfangszeit. Über ihre erste Rolle in einem Broadway-Stück musste sie folgende Charakteristiken lesen: „liebenswerter Ameisenbär“, „kurzsichtige Gazelle“, „seekrankes Frettchen“.

Ein Jahr später, als sie in Funny Girl wirbelwindig die Hauptrolle spielte, klang es dann schon sonorer: „Nofretete“, „babylonische Königin“, auch „pharaonisches Profil und Skarabäus-Augen“. Streisands Kommentar: „Ich glaube, das war als Kompliment gedacht, obwohl ich zugeben muss, dass eines dieser Augen manchmal schielt …“

Parlando und Ambition. Nicht selten gewinnt man den Eindruck, Streisand würde einem gegenübersitzen und plaudern und plaudern und erzählen und erzählen, so umgangssprachlich, dabei warm und zugewandt ist ihre Prosa.

Was es in einem solchen Austausch aber kaum geben dürfte, das ist die Fülle an präzisen Details. Denn Streisand ist mit einem stupenden Gedächtnis gebenedeit und kann, wie sie bekennt, auf seit Langem geführte Tagebücher zurückgreifen. Da werden mit großer Vorliebe Essen und Speisen beschrieben, opulent, genussvoll und hedonistisch, etwa, dass, als sie sich 1983 für Yentl eine kleine Privatwohnung mietete, die Wohnungseigentümerin, eine gebürtige Tschechin, ihr jeden Morgen einen großen Teller an süßem tschechischem Gebäck hinstellte.

 

„Streisand hat es nie für nötig gehalten, sich zu
zügeln, und es gibt auch keinen Grund, jetzt damit anzufangen.“
The New Yorker über My name is Barbra, 2023

 

Damit ist man aber sogleich beim lebenslangen indirekten Thema, das alle Seiten durchwebt – dem Hunger. Nicht nur dem leiblichen, sondern erst recht dem Hunger nach Erfolg, dem Hunger nach Aufstieg und Bildung (so „verschlang“ sie als Teenagerin Ibsen, Shaw und die Schauspiellehrbücher Stanislawskis und verbrachte sehr viel Zeit in der New York Public Library), dem Hunger nach Bestätigung und nach Selbstbestätigung. Und immer wieder taucht die Mutter auf, der neben dem ihr unbekannt gebliebenen Vater das Buch gewidmet ist – auch wenn sich die Mutter, die selbst von einer Gesangskarriere geträumt hatte, aber weder die Durchsetzungskraft noch das Talent ihrer Tochter hatte, später bei großen Auszeichnungsabenden für sie, Barbra, unschicklich laut und eifersüchtig in den Vordergrund schob.

Barbra Streisand neben Bill Clinton, Shimon Peres und Benjamin Netanjahu (v. li. n. re.) anlässlich der 90-Jahr-Feier von Peres im Jerusalemer International Convention Center, 2013. © Kobo Gideon / EPA / picturedesk.com

Angesichts des gewaltigen Umfangs verwundert es nicht, dass die aktuell jedes Risiko scheuenden großen deutschsprachigen Verlagshäuser um diesen Titel einen Bogen machten; dafür nahmen sie im letzten Sommer Titelchen über Popsternchen ins Programm, die nach wenigen Wochen aus dem Gedächtnis gefallen waren. Umso mehr macht es staunen, dass der kleine Wiener Luftschacht Verlag sich dieser Lebensbeschreibung annahm. In der Malzgasse in Wien-Leopoldstadt müssen Hardcore-Streisand-Aficionados zu finden sein, zum Leseglück all derer, die nicht bereits die amerikanische Originalausgabe lasen.

Überraschungen und Verletzungen. Den Umfang als gargantuesk übertrieben abzutun, wie nicht wenige USKritiker:innen, ist abwegig. Denn Streisand ist ja keine Monobegabung – sie ist das Gegenteil: Sängerin, Schauspielerin, Komödiantin, Entertainerin, Regisseurin, Produzentin. Und die wohl am häufigsten ausgezeichnete US-amerikanische Künstlerin nach 1945, mit Oscars, Grammys, Tonys, Golden Globes und anderen Preisen, zuletzt 2024 mit dem Screen Actors Guild Life Achievement Award.

Gar nicht wenige, im Gegenteil: unzählige Überraschungen finden sich hier. Streisands musikalische Einflüsse etwa? Antwort: die Blues-ängerinnen Ma Rainey und Bessie Smith, der Free Jazzer (!) Ornette Coleman und Gustav Mahler.

Man kann sich fest- und kaum sattlesen an den vielen, vielen, schier zahllosen Hintergrundgeschichten aus der Anfangszeit und wie dann der Erfolg kam, mit dem Streisand lebenslang sehr kritisch umging, wie sie Musicals zum Hit machte, wie sie erfolgreiche Platten aufnahm und Filme mit großen Schauspielern drehte, dann die Seiten wechselte, um intelligent die eigenen Geschicke in die Hand zu nehmen, Filme zu schreiben, zu inszenieren, zu produzieren. Selbst bei diesen myriadiös verzweigten Aufgaben vergisst sie nie auf das eine oder andere Detail, das nicht zwangsläufig sprechend sein muss. Dass viele Verletzungen tief sitzen, kann man ebenfalls herauslesen, etwa die herablassende Attitüde Isaac B. Singers, als sie ihm Yentl vorführte, oder auch der lange Showbiz-interne Paternalismus, mit dem sie hie und da Kompromisse bis zur peinigenden Peinlichkeit einzugehen hatte. Ebenso offen geht sie mit eigenen Emotionen um, mit Partnern und Beziehungen.

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