Vom Malheur, ein Wiener Jude zu sein

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In seinem Essay untersucht Egon Schwarz das Fin de siècle. Von Anita Pollak

Das Wien der Jahrhundertwende ist eine in jeder Hinsicht gut erforschte Epoche. Die Rolle, die Juden darin spielten, ist auch nicht gerade unbekannt. Dennoch scheint es immer noch überaus reizvoll, dieser Blütezeit nachzuspüren, und letztlich ist die Frage, was zu der so fruchtbaren Symbiose von Wiener Kultur und jüdischem Geist führte, noch keineswegs gänzlich geklärt.

„Wir suchen das Typische, nicht das Individuelle“, stellt der in Wien geborene amerikanische Germanist Egon Schwarz als Ausgangsposition für seine Spurensuche fest. Seine Miniaturporträts prominenter Persönlichkeiten des Geisteslebens sollen daher ausschließlich deren malheur d’être juif, wie er es in Bezug auf Franz Werfel nennt, beleuchten, also insbesondere die offenbar unauflösbare Spannung zwischen Österreichertum und Judentum, wie sie zum Beispiel Arthur Schnitzler an sich selbst diagnostizierte. Mit Werfel und Schnitzler sind bereits zwei Fallstudien genannt, die Schwarz untersucht. Joseph Roth, Sigmund Freud, Karl Kraus, Herzl und Karl Emil Franzos sind in weiteren Essays aus insgesamt zwanzig Jahren porträtiert, die nun in einem schönen Sammelband vorliegen.

Von der Orthodoxie bis zur Taufe

Zum Typischen dieser Biografien zählen die Familiengeschichten, der zwei oder drei Generationen umfassende Assimilationsprozess vom Schtetl bis zum Schriftsteller, von der Orthodoxie bis fast zur Taufe, um es verkürzt zu formulieren. Bei Joseph Roth vollzog sich dieser Vorgang im Zeitraffer seiner eigenen Lebenszeit. Schwarz interessiert als Germanist das jüdische Selbstverständnis der Autoren im Wiener Fin de siècle und wie es sich in deren Werken, in die sie ihre Konflikte ja oft verlegen, widerspiegelt. Etwa in Arthur Schnitzlers Roman Der Weg ins Freie, in seinem Professor Bernhardi, in Werfels Jakubowsky und der Oberst oder in dessen Erzählung Pogrom, in der er seinen jungen Protagonisten erkennen lässt: „Ich war also Jude! Ich war ein anderer.“ Für Schwarz ist dieser fast unbekannte Prosatext ein Indiz dafür, warum Werfel, der oft der Taufe nahe war, letztlich auf diese verzichtete.

„Möchte gleich zu Anfang feststellen, dass ich ein unverwechselbares Produkt der Gesellschaft bin, die ich kritisch zu betrachten mich anschicke.“ Egon Schwarz

Zum Abschluss seiner Reflexionen über die Wiener jüdische Existenz fügt Schwarz seine eigenen Erfahrungen damit an. 1922 in Wien geboren, gelang es ihm 1938 mit Mühe, nach Bolivien zu emigrieren, wo er sich ein Jahrzehnt mit allerlei schwerer Arbeit, zuletzt in den Silberminen, durchschlug, bevor er in Amerika seinen Lebenstraum zu studieren verwirklichen konnte und ihm daraufhin eine steile Karriere als Universitätsprofessor gelang. Ob ihm in Wien eine solche beschieden gewesen wäre, bezweifelt er. Sein Forschungsgebiet der österreichischen Literatur zeigt aber, dass er seiner Geburtsstadt auf geistige Weise verbunden blieb.

9783406661341_largeZUR PERSON

Egon Schwarz, geboren 1922 in Wien, zog nach seiner Flucht aus dem nationalsozialistischen Österreich durch die halbe Welt und verdingte sich aus der Not heraus mit Hilfsarbeiten, bis er schließlich in den USA Germanistik und Romanistik studieren konnte. Er war Professor in Harvard und St. Louis und kann auf zahlreiche Gastprofessuren zurückblicken.

© ÖNB-Bildarchiv / picturedesk.com

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