Von den Geheimnissen der Nachbarn

In seinem Episodenroman "Über uns" leuchtet Eshkol Nevo dunkle Ecken eines bürgerlichen Hauses aus.

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Eshkol Nevo: Über uns. Aus dem Hebräischen von Markus Lembke. dtv Literatur, 309 S., € 20,60

Beichten ist im Judentum nicht vorgesehen. Was also tun, wenn ein Geständnis, ein Geheimnis, in einem zu explodieren droht, hinaus will, einen möglichst stummen Zuhörer braucht?

Drei Menschen in einem bürgerlichen Vorortewohnhaus, irgendwo außerhalb Tel Avivs, suchen verzweifelt ein solches Gegenüber. Arno findet es in seinem Freund, einem Schriftsteller, der ohnehin immer auf der Suche nach guten Geschichten ist, Chani schreibt lange Briefe an ihre in Amerika lebende beste Freundin, und Dvorah spricht ihre Bekenntnisse auf die „Anrufbeantworterin“ ihres verstorbenen Ehemanns.

Der gemeinsame Wohnort bildet die lose Klammer der drei Episoden, die uns als Roman verkauft werden. Drei Etagen, sein hebräischer Titel, spielt beziehungsreich auf Freuds Modell von Es, Ich und Über-Ich an, Über uns, sein deutscher Titel, ist wiederum zumindest zweideutig. Wer von uns weiß schon genau, wer über uns wohnt und was es über uns zu wissen gibt?

Dreierlei Väter. Auch gute Nachbarn kennt man nicht. Eine schmerzliche Erfahrung, die das Elternpaar Arno und Ayelet machen müssen. So glücklich haben sie sich geschätzt, im freundlichen „Jeckes“-Rentner-Paar Ruth und Hermann stets bereite Babysitter vor allem für ihre Tochter Ofri zu haben, eine letztlich verhängnisvolle Bequemlichkeit, denn ein nicht auszuräumender Verdacht trifft Hermanns Kinderliebe, und der überbesorgte Vater Arno rastet folgenreich aus, in ein weiteres Verhängnis.

Kaum als Vater präsent ist hingegen Assaf, der Ehemann Chanis, im Stockwerk darüber. Was die einsame Gluckenmutter zweier Kinder, „die Witwe“ wird sie von anderen Eltern genannt, so frustriert, dass sie sich in eine Affäre mit dem zwielichtigen Schwager hineinbegibt oder hineinfantasiert. Was immer auch gewesen ist oder hätte sein können, Eshkol Nevo belässt den Ausgang seiner Geschichten in uneindeutiger Schwebe, denn dem studierten Psychologen und Filmtheoretiker – Chani ist übrigens wie ihr Autor an der Cinematheque in Jerusalem tätig – sind Bilder, sind die Seelen seiner Figuren wichtiger als die so genannten Fakten einer so genannten Handlung.

»Ein Seelenhaus mit seinen drei Etagen
existiert in uns überhaupt nicht!«
aus Über uns

Freuds Theorien werden in der dritten Etage von der tatsächlich verwitweten pensionierten Richterin Dvorah im Rückblick auf ihre Ehe zu Rate gezogen. Vor die Entscheidung gestellt, sich für ihren kriminell gewordenen Sohn oder für dessen Vater zu entscheiden, wählte sie den Ehemann. „Jedes Müttergericht würde mich – selbstverständlich – für schuldig befinden. Eine Mutter, die auf ihren Sohn verzichtet – gibt es in der Nation jüdischer Mütter eine schlimmere Sünde?“ Aber darf man eine Frau vor eine solche Entscheidung stellen, fragt sie die „Anrufbeantworterin“ des Verstorbenen, der einen dritten Vatertypus, den überstrengen, fordernden, kalten Vater darstellt.

Geständniszwang. In die privaten, familiären Konflikte, vorstellbar in jedem zivilisierten „Bourgeoisistan“, wie Dvorah das eher biedere Mittelschichtmilieu ihres Hauses nennt, drängt gerade in dieser Episode die Wirklichkeit Israels. Es ist der heiße Sommer des Jahres 2011, und am Rothschild-Boulevard wachsen die Zelte einer protestierenden Jugend. In einem davon, einem Psychologenzelt, lauscht Dvorah unfreiwillig den Geständnissen von Fremden, die ihre intimsten Geheimnisse, ihre sexuellen Vorlieben, ihre Süchte ungebremst und auch für Passanten hörbar ausbreiten. „Es scheint, als hätte sich die Grenzlinie zwischen privat und öffentlich […] in den letzten Jahren verschoben“, beschreibt die Richterin staunend dieses Phänomen.

Das Leitmotiv der Beichte, der Tendenz, das Innere nach außen zu kehren, erfährt hier als Zeiterscheinung, die wir alle in diversen Medien wie Talkshows beo­bachten können, eine quasi universelle Gültigkeit. Freuds Theorie sei diesbezüglich ein Irrtum, folgert die Richterin nach der Lektüre seines Gesamtwerks: „Ein Seelenhaus mit seinen drei Etagen existiert in uns überhaupt nicht! Diese drei Etagen sind die Luft zwischen uns und jemand anderem […], dem wir unsere Geschichte erzählen. Und wenn es so jemanden nicht gibt – gibt es keine Geschichte.“

Eshkol Nevo ist so ein Ohr, ein sensibler Zuhörer und ein feinsinniger, kultivierter, verständnisvoller Erzähler. Als geschulter Psychologe enthält er sich des Urteils, auch deshalb finden seine Geschichten kein eindeutiges Ende, aber die Menschen, die bringt er uns nahe.


Eshkol Nevo in Wien
Der israelische Autor stellt seinen neuen Episodenroman im Rahmen eines Autorengespräches mit Lesung am 22. März 2018 in der Dorotheergasse 12/1 1010 Wien vor. Anmeldung bis 20.03.2018 unter karten@jmv-wien.at
Nähere Infos folgen u. a. auf wina-magazin.at und ikg-wien.at.
https://www.ikg-wien.at/event/lesung-eshkol-nevo-ueber-uns/

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