Von den vier Fragen bis zum Lämmchen

„Wir waren eine gute Erfindung.“ Der kleine Roman des Elsässers Joachim Schnerf führt durch den Sederabend und blickt zurück auf ein ganzes Leben.

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Joachim Schnerf: Wir waren eine gute Erfindung. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Antje Kunstmann 2019, 144 S., € 18

Was unterscheidet diese Nacht von allen anderen Nächten? Für den alten Salomon ist die Antwort klar. Erstmals wird er den Sederabend ohne seine geliebte Ehefrau feiern müssen. Die „heilige Sarah“, wie er sie für sich nennt, ist vor Kurzem gestorben, und der Witwer sieht eine fast unlösbare Aufgabe vor sich. Wie heute den Sederabend über die Runden bringen, zu dem sich wie alljährlich die Familie im Elternhaus versammeln wird? Seine „großartige“ jüdische Familie mit allen ihren möglichen und unmöglichen Macken, die besonders an den Feiertagen immer schon explosionsgefährdet war. Michelle, die Mutter zweier Pubertierender, terrorisiert alle mit ihren gefürchteten Schreiattacken, Denise, die ältere, kinderlose Schwester, ertränkt ihren Frust im Alkohol, ein Schwiegersohn flüchtet vor den Konflikten chronisch aufs Klo, der andere, der „Araber“, ein sephardischer Jude aus Marokko, mit der Schwiegermutter in die Küche. Doch diese, das Zentrum und der ruhige Pol im Chaos, ist nun nicht mehr da, um all das auszugleichen und ihren Salomon während der langen Rituale, Gebete und Gesänge zu unterstützen. Der wiederum schockiert gerne mit KZ-Witzen über Schornsteine, gestreifte Anzüge, Duschen und provokanten Assoziationen zum Lagerleben, die bei seinen wöchentlichen Treffen mit Altersgenossen im „Shoah-Café“ gut ankommen.

Genießen mag so mancher Parallelen und
Abweichungen zu eigenen Seder-Erfahrungen.

Tragikomisch. Bei allem Sinn für schwarzen Humor und tragikomisches Familiendrama mag es doch ein wenig frivol wirken, wenn ein junger Autor der Enkelgeneration sich in die alte Haut eines Mannes begibt, der als einziger seiner Familie die Nazizeit überlebte. Dass Salomon etwa bei der Geburt der ersten Tochter im Kreißsaal den Rauch der Krematorien assoziiert, ist nicht nur ein „gefundenes Fressen für den Psychoanalytiker“, wie er selbst feststellt, sondern eben ein überaus gesuchtes und unpassendes Bild, wie es wohl nur der Fantasie eines Nachgeborenen, Jahrgang 1987, entspringen kann. Fast rührend ist andererseits dessen Sensibilität für die Trauer eines untröstlichen Witwers und Familienvaters, der sich um die Zukunft seiner zerstrittenen neurotischen Töchter sorgt und dem, man ahnt es, wohl kein „nächstes Jahr in Jerusalem“ vergönnt sein wird.
Sicherlich aus eigener Anschauung kann der Straßburger hingegen schöpfen, wenn es um das penibel geschilderte Prozedere des Sederabends geht – von den vier Fragen bis zum Lämmchen –, das als leitmotivische Regieanweisung durch das Buch führt. Von wörtlichen Zitaten aus der Haggada bis zu den jeder Familie eigenen Ritualen beim Verstecken und Finden des Afikoman sind dem einschlägig gebildeten Leser jede Menge Déjà-vus sicher. Das macht nicht zuletzt den Charme dieses kleinen Romans aus, der an einem einzigen Tag spielt und doch auf ein ganzes Leben zurückblickt.
Genießen mag so mancher vielleicht auch Parallelen und Abweichungen zu eigenen Seder-Erfahrungen. Wenn man sich sagen kann, na ganz so arg ist´s oder war es bei uns doch nicht, so hat es die ebenso kurzweilige wie kurze Lektüre bereits gelohnt. Einem Gedicht von Jehuda Amichai ist übrigens der poetische Titel des Romans geschuldet, der im Original knapper und passender Cette nuit heißt.

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