„Von Juden vereinnahmt, von Antisemiten abgetan“

Die Psychiaterin und Psychoanalytikerin Elisabeth Brainin hat zur Psychiatrie im Nationalsozialismus geforscht und ist Vorstandsmitglied von ESRA.

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© Ronnie Niedermeyer

WINA: Ihre Mutter war Teil einer Widerstandsgruppe von Frauen im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und hat die Schoah überlebt. Können Sie die Hintergründe zu dieser unglaublichen Geschichte erläutern?
Elisabeth Brainin: Meine Mutter musste 1938 aus Österreich flüchten, heute würde man sie wohl als „illegale Asylantin“ bezeichnen. In Brüssel schloss sie sich der Österreichischen Freiheitsfront an. 1943 wurde sie bei ihrer Widerstandstätigkeit verhaftet, schwer gefoltert und schließlich im Jänner 1944 vom Sammellager Malines nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Dort arbeitete sie in der Munitionsfabrik Union und schloss sich mit anderen mutigen Mädchen aus dem Warschauer Ghetto zusammen. Diese „Kampfgruppe Auschwitz“ schmuggelte aus der Fabrik Pulver heraus, um das Sonderkommando bei seinen Aufstandsplänen zu unterstützen. Es kam zwar nicht zum Aufstand, aber ein Krematorium wurde mit dem Pulver vom Sonderkommando gesprengt, was schließlich zum Ende weiterer Massenmorde durch Giftgas führte. Drei der Mädchen aus der Fabrik wurden nach schrecklicher Folter öffentlich im Lager hingerichtet. Im Jänner 1945 wurde meine Mutter mit vielen anderen im Todesmarsch und in offenen Viehwaggons nach Ravensbrück deportiert, wo sie wiederum Teil der Widerstandsgruppe im Lager war. Nach der Befreiung war sie eine wichtige Zeugin im Hamburger Ravensbrück-Prozess. Heuer im November wird sie 100 Jahre alt: Ein wirklicher Triumph über die Nazis!

»Im medizinischen Bereich konnte sich
die mörderische Ideologie besonders entfalten.«

Die Nationalsozialisten haben die Psychoanalyse als „jüdische Wissenschaft“ verboten. Abgesehen davon, dass ihr Begründer Sigmund Freud tatsächlich Jude war: Inwieweit ist die Psychoanalyse tatsächlich von jüdischer Lehre, Tradition, Philosophie beeinflusst?
Im selben kulturellen Umfeld entstanden viele wissenschaftliche Entwicklungen, die sicherlich allesamt die Handschrift ihrer Begründer und deren familiären Traditionen tragen. Dennoch wurde von all diesen Strömungen nur die Psychoanalyse als „jüdisch“ bezeichnet. Das führt bis heute dazu, dass sie sowohl von Juden vereinnahmt wie auch von Antisemiten abgetan wird. Freud selbst sah sich eher in der Tradition von Darwin, Helmholtz, Charcot und der Wiener neurologischen Schule. Als religionskritischer Mensch zog er es vor, die Religion einer psychoanalytischen wissenschaftlichen Untersuchung zu unterziehen.

Sie haben zur Geschichte der Euthanasie und der Gräueltaten am Spiegelgrund geforscht, während die Täter noch am Leben waren …
Die verbrecherische Geschichte der Psychiatrie war mir bereits während des Studiums bekannt. Ich selbst hatte noch einige Universitätsprofessoren, die an diesen Verbrechen beteiligt gewesen waren. Der Kampf dagegen in der Gruppe „Demokratische Psychiatrie“ führte schließlich zur großen Reform in den 1970ern. Ich nahm dann an einer Forschungsgruppe zur sogenannten Fürsorgepolitik im Dritten Reich und zu den Folgen für die Überlebenden vom Spiegelgrund teil. Außerdem war ich einige Jahre an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Wien tätig, was mein Interesse für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen unter dem Nationalsozialismus weiter weckte. Im medizinischen Bereich konnte sich die mörderische Seite der Nazi-Ideologie besonders entfalten, und erst in den letzten Jahren konnte die Auseinandersetzung damit öffentlich geführt werden. Bis dahin wurden die Verbrechen, an denen Ärzte mitbeteiligt gewesen waren, vertuscht und verheimlicht. Die beteiligten Ärzte waren in hohen Positionen und versuchten sich die eigene Geschichte „schönzuschreiben“.

Sie sind sowohl Psychoanalytikerin wie auch Fachärztin für Psychiatrie. Wie sind diese doch sehr unterschiedlichen Wissenschaften miteinander verzahnt? Welche Synergien ergeben sich dadurch für Ihre Patientinnen und Patienten?
Gerade weil ich auch Medizinerin bin, fühle ich mich sehr stark in der Tradition Freuds stehend. Ich sehe mich dadurch in der Lage, sowohl körperliche Facetten in psychische Behandlungen einfließen zu lassen wie auch umgekehrt den Einfluss seelischer Strukturen bei körperlichen Erkrankungen zu untersuchen.

Das Sigmund-Freud-Museum wurde jüngst wiedereröffnet. Welche Facetten der Psychoanalyse würden Sie heute als museal bezeichnen, welche sind im 21. Jahrhundert nach wie vor aktuell?
I Leider ist es mir noch nicht gelungen, das neu eröffnete Freud-Museum zu sehen – außer im Internet. Ich denke, die Psychoanalyse ist eine Wissenschaft, die noch immer große Bedeutung hat, nachdem sie von vielen für tot erklärt wurde. Die Entstehung so vieler psychotherapeutischer Schulen ist nur auf der Basis der psychoanalytischen Wissenschaftsgeschichte zu erklären. Die Psychoanalyse hat sich verändert und entwickelt und ist dadurch eine lebendige Wissenschaft geblieben. Das manifestiert sich beispielsweise in der relativ neuen Lehre der Neuropsychoanalyse – wie auch in der großen Zahl an interessierten jungen Menschen, die sich in psychoanalytische Ausbildung begeben.

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