
WINA: Die gläserne Wand ist eine Audio-Porträtserie, bei der pro Folge jeweils ein antisemitischer Vorfall geschildert und dann mit dem oder der Betroffenen ein Interview geführt wird. Die Schilderungen muten wie literarische Texte an, die Gespräche holen die Zuhörenden unmittelbarer in die Realität zurück. Warum haben Sie sich für dieses doppelte Erzählformat entschieden?
Daniel Shaked: Mein Kollege Robert Summerfield und ich wollten kein reines Gesprächsformat machen. Wir haben in der ersten Phase der Konzeption festgestellt, dass es den Protagonistinnen zum einen zu viel abverlangt, die Geschichten in einer Form nachzuerzählen, in der diese dann richtig zu tragen kommen würde. Außerdem erinnern sich Personen beim zweiten oder dritten Mal an Details, die für die Geschichten teils wichtige dramaturgische Elemente wären, in einer bloßen Gesprächssituation aber wahrscheinlich unerwähnt geblieben wären. Dieses Hin und Her war ein wichtiges Element zur Entwicklung der Story. Damit diese aber dann nicht komplett frei und losgelöst stattfindet, gibt es den Gesprächsteil. Dort hört man die realen Stimmen, wir können auf andere Themen zu sprechen kommen und somit eine weitere Ebene einziehen.
Die Interviewten gehören verschiedenen Generationen an – dennoch haben sich einige der Befragten dafür entschieden, Episoden aus ihrer Kindheit und Jugend zu erzählen. Brennen sich in dieser Zeit solche Erfahrungen tiefer ein?
D.S.: Das denke ich nicht, beziehungsweise ist es wahrscheinlich persönlich unterschiedlich. Was die Auswahl betrifft, war es aber leider so, dass es bei den meisten nicht der einzige Vorfall war. Wir haben uns dann für einen entscheiden müssen.

„Es ist mir in meinem Leben immer
wieder Antisemitismus begegnet.
Ich denke, dem kommt man in
diesem Land […] nicht wirklich aus.“
Claudia Prutscher
Eine der Gesprächspartnerinnen ist gar nicht jüdisch und wurde dennoch antisemitisch attackiert. Warum war es Ihnen wichtig, auch solch eine Stimme abzubilden?
D.S.: Weil es ja auch laut der Antisemitismusdefinition so ist: Auch Menschen, die jüdisch erscheinen, können davon betroffen sein. Außerdem finde ich es persönlich extrem bedenklich, wenn man Menschen wegen eines Buches physisch attackiert. Es war wichtig, Anfeindungen aller Richtungen und ohne Wertung aufzuzeigen, und auch, was Rassismus bei den Betroffenen anrichtet.
Was haben diese Porträts mit Ihnen gemacht, als Sie sie zum ersten Mal angehört haben?
Claudia Prutscher: Durch die sehr gut gelungene Ausarbeitung der Interviews sind sie wirklich beeindruckend. Man muss sich Zeit nehmen, aber dann ist es ein echtes Erlebnis. Es ist wie ein Hörspiel, das dich mitten in die Szene hineinnimmt. Durch die professionellen Sprecher und die akustische Begleitung geht das in die Tiefe und ist sehr berührend.
Ist Ihnen ein so unverhohlener Antisemitismus auch schon selbst begegnet?
C.P.: Ich bin noch nie tätlich angegriffen worden. Aber es ist mir in meinem Leben immer wieder Antisemitismus begegnet. Ich denke, dem kommt man in diesem Land, wenn man ein Mensch jüdischer Herkunft ist, nicht wirklich aus. Viele Leute sind sich nicht einmal bewusst, dass manche ihrer unreflektiert abgegebenen Bemerkungen antisemitisch sind.

„Es war wichtig, Anfeindungen aller Richtungen und ohne Wertung aufzuzeigen, und auch, was Rassismus bei den Betroffenen anrichtet.“
Daniel Shaked
Und wie sieht das bei Ihnen aus?
D.S.: Antisemitismus ist mir nicht nur einmal begegnet.
Sie sind als IKG-Vizepräsidentin mit vielen Mitgliedern der Gemeinde in Kontakt, haben auch selbst Kinder und Enkel. Gehören solche Vorfälle zu einem jüdischen Leben bis heute dazu?
C.P.: Ja, leider gehört das zu einem jüdischen Leben dazu. So realistisch muss man sein. Es passiert einfach. Akzeptieren darf man das aber nicht. Jede Form von Rassismus und Ausgrenzung ist Gift für eine Gesellschaft. Leider muss ich an dieser Stelle aber auch sagen: Das Problem antisemitischer Anfeindungen hat sich seit dem 7. Oktober 2023 massiv verstärkt. Das hat dazu geführt, dass Gemeindemitglieder ihre Mesusot von den Türen abnehmen, damit man nicht erkennt, dass hier Juden leben – auch vor dem Hintergrund, dass Paketauslieferer heute aus verschiedensten Kulturen kommen, das wird dann auch mitgedacht. Ich finde es beängstigend, dass diese Angst und diese Beklemmungen wieder da sind. Und ich merke ja auch selbst: Ich bin ein sehr vorsichtiger Mensch und versuche nicht in gefährliche Situationen zu kommen. Diese Gedanken begleiten einen, sie sind immer da.
Die Porträtserie Die gläserne Wand kommt auch an Schulen zum Einsatz. Können Sie mehr dazu erzählen?
C.P.: Die koordinierende Stelle ist hier die Bildungsdirektion Wien. Wir haben Plakate drucken lassen, auf diesen findet sich auch ein QR-Code, der direkt zur Website mit den Porträts führt. Die Plakate wurden in Schulen, aber zum Beispiel auch öffentlichen Bibliotheken aufgehängt. Darüber, wie viele Lehrer und Lehrerinnen die Interviews auch in ihrem Unterricht einsetzen, haben wir aber keine Rückmeldung.
Was ist hier die Erwartungshaltung der IKG – was kann man mit einer so gestalteten Präsentation bei Jugendlichen erreichen?
C.P.: Es geht uns darum, für das Thema zu sensibilisieren. Die Porträts sind spannend gemacht, durchaus auch mit Gänsehauteffekt. Von solch einem Hörspiel nimmt man emotional immer etwas mit. Jugendliche erfahren so, wo Antisemitismus überall lauern kann.
Wird die Serie fortgesetzt?
D.S.: Wir würden die Reihe gerne fortsetzen, aber das ist eine Entscheidung der IKG.
C.P.: Wir sind an einer Fortsetzung auch interessiert und haben nun einmal die nächsten Folgen für 2026 eingeplant.
Ein Teil der bisherigen Interviewten bat um eine Anonymisierung. Dem sind Sie nachgekommen. Macht das aber nicht auch betroffen?
D.S.: Ja, leider, und es sagt Bände über die derzeitige Situation – aber das Vertrauensverhältnis und der Vertrauensgrundsatz waren und sind uns sehr wichtig. Und nach dem, was einigen Menschen passiert ist, verstehe ich auch komplett, wenn man nach dem Erlebten nicht mit Namen und Gesicht in der Öffentlichkeit stehen will – vor allem nicht im Moment. Dafür gibt es einfach zu viele Gründe persönlicher Natur, da hängt einiges mit dran.
Wie wichtig ist so ein Projekt nach dem 7. Oktober 2023?
C.P.: Jede Bewusstseinsschärfung ist nach dem 7. Oktober wichtig. Wir müssen mehr denn je gegen Antisemitismus, gegen judenfeindliche Vorbehalte und Vorannahmen vorgehen. Antisemitismus ist mit dem 7. Oktober noch ein Stück „salonfähiger“ geworden. Das, was zuvor eher unter der Hand geäußert wurde, wird nun ganz offen gesagt. Erst kürzlich habe ich wieder gehört, dass ein Uber-Fahrer jüdische Fahrgäste nicht einstiegen ließ – und er sagte auch ganz offen, warum. Das ist untragbar. Daher ist im Moment jedes Projekt, das Bewusstsein schafft, wichtig. Es geht auch darum, Menschen zu erreichen, die sich gar nicht dessen bewusst sind, dass auch sie Teil des Problems sind, Stichwort Antisemitismus, der als Israel-Kritik daherkommt. Es passieren in der Welt so grauenhafte Dinge, vom Krieg gegen die Ukraine bis zur Unterdrückung der Uiguren. Aber wenn es um Juden geht, scheint es etwas anderes zu sein. Weil wir heute so weit sind, dass wir uns gut schützen können, sind wir für viele erst recht schuldig.