Von Zeit zu Zeit

Ein Tag ist ein Tag, sagt der Kalender. Ein Tag ist nichts, sagt das Gefühl. Warum die Zeit mit zunehmendem Alter zu rasen beginnt und wie man sie ein bisschen einbremsen kann, verrät die israelische Zeitforscherin Dinah Avni-Babad.

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Die Sache mit der Zeit ist eine seltsame. Die Wochen, die wir aufgrund der Corona-Krise zu Hause verbringen mussten, wurden uns lang. Und doch kommt es uns vor, als sei der Frühling an uns vorbeigerauscht. Bald schon werden die Tage wieder kürzer, und ehe wir uns versehen, feiern wir Rosch ha-Schana. Das Virus mag unseren Alltag eine Weile entschleunigt haben, nicht jedoch unser Dasein. Vielmehr scheint die Zeit von Lebensjahr zu Lebensjahr mehr Fahrt aufzunehmen, ja manchmal geradezu zu rasen.
Natürlich kann man das physikalisch nicht beweisen. Eine Sekunde ist und bleibt der Zeitraum, in dem ein Cäsium-Atom 9.192.631.770-mal schwingt. Ein Monat hat 28 bis 31 Tage, ein Jahr zählt 353 bis 385 Tage – je nach Kalender. Doch während sich früher, als wir noch Kinder waren, die Wochen vor Chanukka wie eine Supernova dehnten, gehen sich heute kaum die Vorbereitungen und die Vorfreude auf das Fest aus.
Die Sache mit der Beschleunigung der Zeit widerfährt den meisten von uns ganz unmerklich; mit Anfang oder Mitte 20. Kaum begreifen wir meist, wie das Leben läuft, und da läuft es uns auch schon davon. Aus „Zeit haben“ für die wichtigen Dinge wird plötzlich ein „sich Zeit nehmen müssen“. Stunden, Tage und Wochen sind Vergangenheit, kaum dass sie Gegenwart werden. Die Naturgesetze geraten außer Kontrolle, auf den Januar folgt der Juli, auf den Kislew der Siwan. Und irgendwann fragt man sich: „Wo ist bloß das vergangene Jahr geblieben, und was habe ich eigentlich damit gemacht?“
Für Dinah Avni-Babad, die als Psychologin an der Hebrew University of Jerusalem unter anderem das Phänomen Zeit erforscht, ist diese Art der Demenz „eine ganz normale Alterserscheinungen: Während für eine Fünfjährige ein Jahr ein Fünftel ihres Daseins und ihrer Erinnerungen ausmacht, sind es für einen 50-Jährigen nur noch ein Fünfzigstel. Ihm bedeutet ein Jahr also nur noch ein Zehntel dessen, was es für eine Volksschülerin zählt“, so die Forscherin. Und solche „Kleinigkeiten“ könne man dann schon auch mal (schneller) vergessen …
Eine einfache Rechnung. Eigentlich. Denn müsste uns unsere Zeit auf Erden nicht täglich kostbarer und damit erinnerungswerter werden, wo sie doch unaufhaltsam abläuft? „Unsere Wahrnehmung ist hier nicht objektiv“, sagt Dinah Avni-Babad. „Das Gehirn misst die Zeit nämlich nicht wie eine Uhr oder ein Kalender in Stunden oder Jahren, sondern in ,merk-würdigen‘ Ereignissen und Eindrücken, aus denen es Erinnerungen strickt.“ Und genau hier liegt das Problem: Denn unser Hirn hält die meiste Zeit des Tages rein gar nichts für sonderlich (be)merkenswert, sondern schaltet auf Autopilot. Zähneputzen, Abwaschen, E-Mails beantworten, mit der U-Bahn fahren, einen Blick aus dem Bürofenster werfen – all diese alltäglichen Tätigkeiten und Eindrücke sind für unseren Denkapparat kein Grund, kostbaren Speicherplatz für Erinnerungen zu verschwenden.

»Das Gehirn misst die Zeit nicht wie eine Uhr
oder ein Kalender, sondern in ,merkwürdigen‘
Ereignissen und Eindrücken.«
Dinah Avni-Babad

Routinen entwickeln. „Je älter wir werden, desto mehr Routine und Routinen haben wir zudem entwickelt. Wir erleben also immer weniger Lehr-Zeiten und dafür immer mehr Leer-Zeiten. Unser Gehirn registriert keine besonderen Vorkommnisse, folglich wird auch nichts abgespeichert“, sagt Dinah Avni-Babad. So gehen ganze Tage quasi spurlos an unserem Gedächtnis vorbei, fallen aus der Zeit und der Erinnerung. Auf den 3. Jänner folgt in der Rückschau der 24. Juli. Und so verwundert es nicht, dass laut Untersuchungen amerikanischer Psychologen die gefühlte Lebensmitte irgendwo bei der Volljährigkeit liegt: „Die meisten Menschen über fünfzig nehmen den rasenden Rest ihres Lebens als genauso lang war wie die Zeit bis zu ihrem 18. Geburtstag.“
Was aber macht die ersten Lebensjahre so viel praller und merk-würdiger als die letzten? Routine und Routinen gibt es schließlich auch für Kinder – vom Schuheanziehen bis zum Händewaschen vor dem Essen. „Es sind die ersten Male, die aus unserer Kindheit und Jugend eine Wundertüte machen“, betont die israelische Zeitforscherin. „Der erste Schultag, der erste Besuch im Zoo, der erste Kuss – all diese starken, alle Sinne reizenden Erfahrungen werden zu starken Erinnerungen, zu Meilensteinen in der Zeit.“
In diesen ersten Malen liegt für Dinah Avni-Babad deshalb auch das größte Potenzial, um dem Rasen der Zeit entgegenzutreten. Leider werden erste Male mit zunehmendem Alter seltener. Sie kommen kaum mehr von allein, man muss sie schon aktiv suchen. Aber es lohnt sich: „Das Ausbrechen aus Routinen und das sinnliche Erleben neuer Dinge, aus dem unser Gehirn Erinnerungsgeschenke basteln kann, dehnt die Zeit und macht sie voller“, verspricht die Psychologieprofessorin. „Man kann im Kleinen anfangen und abends einfach mal auf neuen Wegen vom Büro nach Hause gehen oder das Gespräch mit dem gerade zugezogenen Nachbarn suchen. Und dann nimmt man sich Größeres vor und unternimmt einmal im Monat oder auch einmal in der Woche etwas, das noch nie zuvor auf der Agenda stand.“
Keine Sorge übrigens, wenn die Zeit, die Sie mit Ihrem neuen ersten Mal verbringen, wie im Fluge vergeht. „Auch das ist eines der vielen Zeit-Phänomene, man nennt es Holiday-Paradox“, sagt Dinah Avni-Babad. „Schönes, Neues, Aufregendes und Abenteuerliches, das im Moment des Erlebens viel zu kurz erscheint, dehnt sich in der Erinnerung zu einem erfüllten Leben.“

Einen Zeit-Gang runterschalten

Psychologin Dinah Avni-Babad verrät Tipps, wie wir uns die Entschleunigung, die wir in den vergangenen Wochen der Krise als so wohltuend empfunden haben, bewahren können.

Entschleunigungstipp #1:
Neues wagen
Wer die Zeit dehnen möchte, muss seinem Gehirn die Möglichkeit bieten, Erinnerungsanker zu setzen. Besonders gut gelingt das, wenn man Neues wagt, sein Wissen und seine Fähigkeiten erweitert, Dinge zum ersten Mal erlebt. Dabei ist es egal, ob man mit dem Klavierspielen beginnt, auf Reisen geht, ein exotisches Restaurant ausprobiert, an einem Online-Coaching teilnimmt, sich einer sportlichen Herausforderung stellt, sein Gegenüber mit Fragen löchert – Hauptsache, man verlässt die eigene und ewig gleiche Komfortzone.

Entschleunigungstipp #2:
Achtsamkeit üben
Es ist nicht immer möglich, den Alltag mit neuen, spannenden Aktivitäten zu füllen, um die Zeit zu dehnen. Außerdem müssen manche Routinetätigkeiten auch einfach erledigt werden. Wenn man aus ihnen aber kleine Achtsamkeitsübungen macht, trägt
das zur Entschleunigung bei. Wer etwa zur Abwechslung mal mit der linken statt der rechten Hand die Zähne putzt, schafft wieder Bewusstsein für diese kleine Form der Selbstfürsorge.

Entschleunigungstipp #3:
Tagebuch führen
Auch Tagebuchführen ist eine gute Achtsamkeits- und Dankbarkeitsübung. Wenn man aufschreibt, was der Tag gebracht hat, fällt er nicht mehr so leicht aus dem Gedächtnis. Und falls doch, kann man immerhin jederzeit nachlesen, was los war. Wer nicht gern schreibt, kann sich abends auch einfach mit seinen Lieben über den Tag austauschen. Wichtig dabei ist, sich auch an die sinnlichen Details der Erfahrungen zu erinnern. Wie roch es? Was drang ans Ohr? Wie hat es sich angefühlt?

Entschleunigungstipp #4:
Zwischenziele feiern
Die Zeit rast vor allem dann, wenn wir meinen, in den vergangenen Tagen, Monaten oder Jahren wenig geschafft und unsere gesteckten Ziele nicht erreicht zu haben. Daher ist es wichtig, auch kleine Etappenziele zu feiern und so Erfolgsanker zu setzen, an die sich Erinnerungen andocken können. Aus einem Jahr, das einfach vorbeirinnt, werden so Monate, in denen wir Meilensteine auf dem Weg zu unserem Ziel gemeistert haben.

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