Was jetzt überhaupt noch einen Sinn hat

Aus einem „Fenster ohne Aussicht“ blickt der Schriftsteller Dror Mishani in seinem Tel Aviver Tagebuch auf sein Land in Zeiten des Krieges.

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Dror Mishani genießt Lesereisen in Europa, den direkten Kontakt mit seiner internationalen Leserschaft. Während eines Krimifestivals in Toulouse erreicht ihn am Morgen des Schwarzen Schabbats aus Israel die erste Schreckensnachricht, der noch viele folgen sollten. Bereits auf dem Rückflug, das Ticket war schwer genug zu ergattern, aber dass er heim muss, steht für ihn außer Frage, beginnt er seine Gedanken, seine Ängste niederzuschreiben. Ein Tagebuch wird entstehen und vorerst nur in deutscher Übersetzung erscheinen.

Geplant ist dessen Buchpräsentation in Wien, im Jüdischen Museum, ein Interview für WINA ebenso. Doch genau da beginnt der zwölf Tage dauernde Krieg Israels mit dem Iran. Unvorhersehbar, unplanbar ist also das Leben eines israelischen Autors. Doch worüber überhaupt schreiben und wozu, wer soll das lesen, was vermag Literatur in Zeiten wie diesen? Existenzielle Fragen für einen Literaturwissenschaftler und Erzähler, der sich vor Jahren mit Avi Avraham einen serientauglichen Ermittler für seine Krimis erfunden hat. Geradezu läppisch müssen jetzt dessen Fälle, eine einzige Leiche, ein ungeklärter Mord, erscheinen angesichts der hunderten Opfer, die es zu identifizieren galt.

Weit zurück in der Menschheitsgeschichte greift Mishani, um Parallelen zu finden, öffnet in der Heiligen Schrift das Buch Ezechiel voll grausamer Untergangsprophezeiungen, dann Homers kriegerische Ilias und sogar Stefan Zweigs Die Welt von Gestern. Als er seinen Studierenden Zitate Natalia Ginzburgs vorliest, „Wir werden nicht mehr von diesem Krieg genesen […] Ihr seht, was man aus uns gemacht hat“, muss er weinen.

Ideologische Risse. Über das erste halbe Jahr des Gazakriegs, vom 7. Oktober 2023 bis zum März 2024, reichen die in sechs Teile gegliederten Aufzeichnungen dieses Journals der Gedanken, Beobachtungen, Reflexionen, Skizzen, Episoden, Geschichten und Fragen aus dem niemals normalen Alltag.

Was kauft man auf Vorrat ein, wo findet man schnell Schutz, wenn die Sirenen heulen, wo Rat und Trost, da doch die Familie ideologisch zerrissen scheint? Militant und siegessicher der Bruder, kämpferisch die Mutter, eine Zionistin vom alten Schlag, ganz auf ihrer Linie die fast erwachsene Tochter, während sich der nur am Fußball interessierte Teenager- Sohn total zurückzieht und die nicht jüdische Ehefrau in einer englischen Kirche Abschied von ihrer mit über 100 Jahren verstorbenen polnischen Großmutter nimmt.

„Was, wenn wir […] am Ende einfach
nicht klug sind?“

Nachrufe zu verfassen auf die über tausend Tote, gehört übrigens zu einer der Freiwilligen-Tätigkeiten, zu denen Schreibende aufgerufen werden. Mishani hilft stattdessen bei der Salaternte in einem Moschaw und schneidet sich dabei die Finger blutig. „Jetzt bist du kriegsversehrt“, meint er selbstironisch, er, der als Rekrut den Militärdienst zur Schande seiner Familie abgebrochen hatte. Pazifismus kann man es wohl nicht nennen, aber Mishanis grundsätzliche Skepsis an Frieden durch Mittel des Krieges wird durchgehend spürbar. Empathisch sich auch die andere, also die palästinensische Seite und ihre Geschichte vorzustellen, betrachtet er als „die Aufgabe der Literatur“. Zweifel, ob sein unheroisches Buch auf Hebräisch zu lesen sein wird, erscheinen also nicht ganz unangebracht. Viel besorgniserregender sind aber seine dunklen, oft fast nur nebenbei ans Licht drängenden Nachtgedanken. „Ich habe Angst, dass wir auf dem Weg in den Untergang sind.“ Oder: „Was, wenn wir entgegen allem, was wir von selbst denken, am Ende einfach nicht klug sind?“

Hilflosigkeit und Ohnmacht eines Bürgers, dessen Klugheit zwangsläufig ausgelagert ist an Mächte wie Netanjahu oder den amerikanischen Präsidenten, spiegeln sich über die Seiten eines Bandes, der sich einreiht in die mittlerweile zahlreichen Publikationen über die schicksalhafte Zeitenwende, die alles verändert hat. Den vielen bereits bekannten Aspekten fügt Dror Mishani die Facette von der „lebensrettenden“ Kraft der Literatur hinzu. Aus seinem „Fenster ohne Aussicht“ auf die Rückseite des Hauses, in dem Ben Gurion 1948 den Staat Israel ausgerufen hat, beantwortet er sich seine Frage, ob die Beschäftigung mit Literatur „jetzt überhaupt noch einen Sinn hat“ mit einem „Ja“.

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