Der Teufel steckt im Detail. Im ersten Schauraum ziert eine auf den ersten Blick fröhliche, bunt-gemusterte Tapete die Wand. Gestaltet wurde sie von Jonathan Rotsztain – und sie zeigt Szenen aus der Schoa. Da ist etwa ein Baby in gestreiftem Gewand im KZ Auschwitz, da ist aber auch ein schlafender Bub, der von Soldaten träumt. Rotsztain ist Enkel von vier Holocaust-Überlebenden und der Bub auf der Arbeit mit dem Titel „Patterns“ ist er. Obwohl er die NS-Zeit nicht selbst erlebt hat, verfolgt ihn die Geschichte im Schlaf.
Vererbte und über Generationen weitergegebene Traumata: dieses Phänomen zieht sich durch viele Objekte in der Schau. Die Künstlerin Dwora Fried illustriert ihre Familiengeschichte in Form von „Memory Boxes“. In diesen Assemblagen aus gemalten Bildern, Fotos, Spielzeug aus den 1940- und 1950er Jahren und Dingen, die sie im Haus ihrer Eltern oder auf Flohmärkten gefunden hat, illustriert sie vor allem das Gefühl der Entfremdung. In einer der nun im JMW ausgestellten „Gedächtnisboxen“ hängen zwei nackte Babypüppchen an der Wand wie Jagdtrophäen. Fried, die in der Presseführung zur Schau ihre Arbeiten kurz vorstellte, erzählte dabei, ihre Mutter habe sie als Baby nicht füttern können, denn jedes Babyweinen habe sie an das Weinen der Babys erinnert, die von Nazis aus dem Fenster geworfen worden waren.
Wie würde sie da heute die Beziehung zu ihrer Mutter beschreiben? Sie habe nicht über den Holocaust gesprochen und ihre beiden Töchter – Dwora Fried und ihre Schwester – wagten nicht, Fragen zu stellen, aus Sorge, sie würde dann „tot umfallen“. Sie wussten zwar, dass die Mutter die KZ Auschwitz und Bergen-Belsen überlebt hatte. Aber sie wagten nicht, darüber zu sprechen – ganz im Gegenteil zu den Enkelinnen. Diese fragten – und erhielten auch Antworten von der Großmutter.
Es ist dies ein in vielen Familien aufgetretenes Phänomen: Schweigen zwischen erster und zweiter Generation, und dann ein Sich-Öffnen gegenüber der dritten Generation, so sie sich für das Familientrauma interessiert. Das tun nämlich nicht alle Nachfahren von Überlebenden – meist gibt es hier jeweils eine Person innerhalb einer Generation, die sich der Familienerinnerung annimmt. Auch das thematisiert die Ausstellung.
Die Spurensuche: sie ist jedenfalls ganz typisch für manche der dritten – beziehungsweise Enkel-Generation. Produkt einer solchen Spurensuche ist zum Beispiel der Beststeller „Alles ist erleuchtet“ von Jonathan Safran Foer. Auf diesen referenziert die von Gabriele Kohlbauer-Fritz und Sabine Apostolo kuratierte Schau mit einer Filmklappe aus der Filmproduktion zum Buch. Der Roman entstand nach einer Reise des US-Autors in die Ukraine, wo er sich auf die Suche nach Spuren seiner Vorfahren machte – allerdings vergeblich. Auch das ein Muster, das immer wieder zu beobachten ist: in manchen Familien ist schlicht nichts Materielles von diesem Leben vor dem Holocaust übrig geblieben.
Für manche Nachfahren von Überlebenden hieß und heißt das aber auch: Verwandte sind vor allem eines – tot. Dieses Motiv verarbeitete Rafael Goldchain, 1953 in Chile geboren und in den 1970er Jahren nach Kanada ausgewandert, in seiner Arbeit „I Am My Family“. Er schlüpft dabei für Familienporträts in die Rolle vieler Vorfahren und Familienmitglieder. Diese hatten vor der NS-Zeit in Polen gelebt.
Wie Menschen diese vererbten Erfahrungen und Traumata verarbeiten, ist individuell. Was diese Ausstellung aber zeigt: sie sind und bleiben Thema. Bis heute. Wie sehr das der Fall ist, illustriert der letzte Ausstellungsraum: hier wird auf die Ereignisse am 7. Oktober 2023 in Israel eingegangen. Drei Gemälde der Künstlerin Noa Arad Yairi bringen Mimik und Gesten des Entsetzens zum Ausdruck. Sie porträtierte in diesen Arbeiten in Acryl und Bleistift Trauernde und Tatorte, die nach dem 7. Oktober in den Nachrichten zu sehen waren.
Die Ausstellungsmacherinnen greifen damit auch das Thema Retraumatisierung auf. „Das Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 kann historisch und politisch nicht mit dem Holocaust oder mit Pogromen in Europa gleichgesetzt werden“, ist hier an der Wand zu lesen. „Doch der Angriff und der darauffolgende Krieg haben nicht nur unzählige neue Traumatisierungen zur Folge, sondern wecken auch die Traumata des Holocaust, die tief in der israelischen Gesellschaft verankert sind. Plötzlich sind die Warnungen der Großeltern und die Ängste mancher Kinder und Enkelkinder mit erschreckender Brutalität wahr geworden. Das Sicherheitsgefühl vieler Jüdinnen und Juden in Israel wie auch in der Diaspora ist stark erschüttert.“
Hier docken auch Teile des Rahmenprogrammes zur Ausstellung an. Geplant ist zum Beispiel eine entsprechende Veranstaltung mit ESRA. Staudinger kündigte aber auch „Generation Talks“ an. Was sie bei dieser Schau bereits im Vorfeld freute: dass das Interesse schon beim Entstehen der Ausstellung groß gewesen sei und sich viele Menschen gemeldet hätten, die Leihgaben aus der eigenen Familie zur Verfügung stellten. Zu Besuch waren am Dienstag etwa auch Nachfahren von Isidor Löwit, von den Nazis ermordeter Kantor des Türkischen Tempels in Wien. Dessen Tochter Margarethe konnte sich nach Italien flüchten, dort lebt die Familie bis heute. Sichtlich bewegt besuchten nun Löwits Urenkelin sowie sein Ur-Urenkel die Schau.
Zu sehen ist „Die dritte Generation“, eine Kooperation zwischen dem JMW und dem Jüdischen Museum München, bis 16. März 2025 in Wien, danach wandert sie nach Bayern. Der im Verlag Hentrich & Hentrich erschienene Katalog zur Schau zeigt nicht nur die Ausstellungsobjekte, sondern befasst sich in vertiefenden Textbeiträgen mit dem Thema. Die Ausstellung sei übrigens die erste, die sich explizit mit dem Phänomen der dritten Generation auseinandersetze, so Staudinger.
Mit dem Sterben der letzten Überlebenden rücken insgesamt deren Nachfahren immer mehr in den Fokus, wenn es um das Thema Erinnerung geht. Die Nachfahren sind zwar keine Zeitzeugen und Zeitzeuginnen für die Schoa an sich – aber sie können eben aufzeigen, wie sich der Holocaust in ihren Familien ausgewirkt hat. Nicht alle verarbeiten das künstlerisch. Die im JMW ausgestellten Arbeiten zeigen aber doch die Bandbreite an Gefühlen auf, die in betroffenen Familien auftreten. Hier versprechen die „Generation Talks“ spannend zu werden. Nicht in allen Familien herrschte nämlich das Schweigen vor: es gab auch jene Überlebenden, die nicht mehr aufhören konnten, von dem Grauen zu sprechen. Auch das ging an ihren Kindern nicht spurlos vorüber.
Fazit: die Schoa wirkt nach – und zwar nicht auf die eine Weise, sondern eben auf vielfältige Art. Zitat der US-Journalistin Sarah Wildman: „Wir sind die Letzten, die Überlebende kennen und lieben, wie sie sind – als menschlich, als fehlerhaft, als unsere Familie. Was machen wir jetzt mit dem Wissen?“
18.09.2024 – 16.03.2025 im Jüdischen Museum Wien
Die Dritte Generation.
Der Holocaust im familiären Gedächtnis
Ist auch ein Foto von meinen Assemblagen dabei?
Ich habe keine gefunden, obwohl Sie mich beschreiben….