Was sind Orte  ohne Erinnerung?

Die Familie, das lange 20. Jahrhundert, Schweigen, Orte, Schicksale, Erzählen. Die polnische Verlegerin Monika Sznajderman und der englische Historiker Mark Mazower haben zwei Familienbücher geschrieben.

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Ein Leben lässt sich auf vielerlei Arten erzählen. Da hat der in New York lehrende englische Historiker Mark Mazower Recht. Es gibt die romantischen Hagiografien, moderne Verehrungsgeschichten, es gibt Enthüllungsbücher und Bände, die Traumata und deren Heilung nachzeichnen. „Wie wäre es“, fragt Mazower, „die Geschichte eines Lebens zu erzählen, das die Entwicklung eines anderen, weitaus älteren Themas illustrierte: das Streben nach Zufriedenheit und Wohlergehen?“ Etwa: die Geschichte des Vaters. Dessen Leben eben dies war – ein Streben nach Zufriedenheit und Wohlergehen.

Mark Mazower:
Was du nicht erzählt
hast. Meine Familie im
20. Jahrhundert.
Aus dem Englischen
Ulrike Bischoff. Suhrkamp Verlag 2018,
376 S., € 26,80

In dessen letzten Lebensmonaten war Mazower bei seinem Vater William in einem Spital in Hampstead Heath, in jenem Londoner Grätzel, in dem er sein gesamtes Leben verbrachte. Bei der Beisetzung musste sich der 1958 geborene Geschichtsordinarius eingestehen: Von der Geschichte seiner Familie wusste er erschreckend wenig. Also machte er sich daran, in vielen Archiven zu recherchieren. Und erzählt die ins 19. Jahrhundert zurückreichende Historie seiner Mischpoche.

So kehren die Toten wieder. So also kehren sie wieder, die Toten. Ein Satz des Autors W. G. Sebald, den die polnische Verlegerin Monika Sznajderman ihrem Familienbuch Die Pfefferfälscher voranstellt. Die Toten sprechen zu lassen, verbindet beide Bände.
Das zaristische Russland, spätes 19. Jahrhundert. Der Buchhalter Max Mazower, der sich aus krasser Armut durch Intelligenz und Ehrgeiz hochgearbeitet hatte, ist im Geheimen ein Organisationsgenie des Bundes, der großen jiddischsprachigen marxistischen Arbeiterorganisation im Ansiedlungsrayon, die bis zur Revolution von 1917 größer, effektiver und erfolgreicher war als die wenigen Tausend Anhänger Lenins. 1952, sechs Jahre vor Marks Geburt, starb der extrem schweigsame Max in London. Nach zweimaliger Sibirien-Verbannung hatte er sich 1905 nach England gerettet, reüssierte dort schnell und wurde als Vertreter einer großen Schreibmaschinenfirma nach Russland (zurück)geschickt. 1919 entkam er den Bolschewiki, die ihn für einen Spion hielten, in einer Nacht-und-Nebel-Aktion. Er ließ sich in Hampstead Heath nieder, mit Frau Frouma und deren Tochter aus erster Ehe sowie seinem Sohn aus einer anderen Beziehung. Dann kam William zur Welt. Im Gegensatz zu seinem Stiefbruder, der später alle Beziehungen zur Familie kappte, in Francos Spanien lebte und rechtsextrem-antisemitische Konspirationsbücher zusammenschrieb, und seiner eleganten Stiefschwester Ira, die in der Modepublizistik Erfolg hatte, reich heiratete und einige Romanzen veröffentlichte, war Bill durch und durch Engländer. Er studierte in Oxford und war dann in London Jahrzehnte lang im mittleren Management einer international tätigen Firma tätig, heiratete, zeugte vier Söhne. Es ist die Geschichte eines Ankommens einer Familie. In sicheren Verhältnissen. Im Frieden. In der Zivilität. Nach Bürgerkrieg, Kämpfen, Kriegen, Verfolgungen. Hie und da ein wenig zu ausufernd, ist dies eine subtile, aufschlussreiche Geschichte einer jüdischen Familie inmitten aller Disruptionen, Entwurzelungen, Konflikte der letzten 150 Jahre.

»Der Zivilisationsbruch, den der Holocaust bedeutet, lässt sich auch an Bildern ablesen.«
Martin Pollack

Ökonomischer Auf- und Abstieg. Nicht ganz so angelsächsisch-abgeklärt, vielmehr mit Furor, Empathie und teils massivem Erschrecken geschrieben ist Monika Sznajdermans Die Pfefferfälscher.

Vor einigen Jahren erhielt sie überraschend von entfernten Verwandten aus Nordamerika ein Konvolut von Fotografien ihrer Familie väterlicherseits. Sie rekonstruiert, von heiteren Spiel-, Freizeit- und Urlaubsfotos ausgehend, was den Sznajdermans, Hubermans, Grunbergs, Blats und Flamenbaums aus Radom in Polen in den letzten 100 Jahren widerfuhr, diesen „gewöhnlichen Menschen ohne Geschichte“. Martin Pollack prägnant in seinem Nachwort: „Der Zivilisationsbruch, den der Holocaust bedeutet, lässt sich auch an Bildern ablesen.“

Monika Sznajderman:
Die Pfefferfälscher.
Geschichte einer Familie.
Aus dem Polnischen
von Martin Pollack.
Jüdischer Verlag im
Suhrkamp Verlag 2018, 280 S., € 28,80

Sznajderman erzählt von Lebensfreude, Auf- und ökonomischem Abstieg, von kleinen Freuden, flamboyanter Extrovertiertheit und Tod. Vor allem vom Tod. Denn im Juni 1945 lebte von diesen vielen nur Sznajdermans Vater, damals 16 Jahre. Er hatte mehrere KZ überlebt. Und erzählte später nichts darüber. Seine Mutter Amelia war 1941 erschlagen worden, sein Vater mit seinem jüngeren Bruder 1942 in einem Vernichtungslager umgekommen. Monika Sznajderman recherchiert, fährt zu den Lebens- und Sterbeorten. Und findet: keine Spuren, nichts. Auslöschung und Verleugnung sind perfekt.

Um so peinigender ist dies für sie, weil ihre Familie mütterlicherseits katholische großbürgerliche Polen waren, vor 1939 auf einem großen Gut nahe Lublin residierten, privilegiert, reich, sorgenfrei waren. Und dabei teils extrem nationalistisch. Ihre unmittelbaren Nachbarn in einem jüdischen Dorf ignorierten. Und wegsahen, als der Holocaust einsetzte. So wie viele Polen, die die Schoah ausnutzten, sich bereicherten. Und ab Sommer 1945 neuerlich in antijüdischen Pogromen mordeten.

Die beiden Bände überschneiden sich, unterscheiden sich jedoch grundlegend. Schließlich hat von Sznajdermans einem Familienstrang die Schoah als einziger ihr Vater überlebt, der später Medizinprofessor wurde. Ihr essayistisches Buch ist auch wegen des aktuell virulenten Neoantisemitismus in Mittelosteuropa so lesenswert.

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