Welche Wahl hatten sie?

Das Erscheinen ihres Lebenswerks in Buchform haben Leonard und Edith Ehrlich nicht mehr erlebt. Ihr Sohn Carl hat es nun nicht nur geschafft, tausende Seiten aus dem Nachlass seiner Eltern zu sichten und zu edieren, es ist ihm auch gelungen, deren Opus Magnum dort zu präsentieren, wo es seinem Wesen nach hingehört.

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© Konrad Holzer

„Meine Eltern stammten aus Wien und haben sich lebenslang mit dem historischen Geschehen und ihrer persönlichen Geschichte auseinandergesetzt. Es war mir daher wichtig, dass ihre Arbeit über ihre Heimatstadt auch in dieser zur Kenntnis genommen wird.“
Carl Ehrlich ist Professor für Judaistik in Toronto, Kanada, und hat den nunmehr vorliegenden ersten Band von Choices under the Duress of the Holocaust dort bereits vorgestellt. So fern vom Ort des eigentlichen Geschehens war der Resonanzraum dort freilich ein ganz anderer als in Wien, wo das Thema offenbar noch immer leidenschaftlich diskutiert wird, wie die sehr persönliche Buchpräsentation im Wiener Jüdischen Museum gezeigt hat.

Murmelsteins Dilemma. Denn im Zentrum des voluminösen Bandes steht die Figur des Wiener Rabbiners Benjamin Murmelstein, dessen Bild trotz aller wissenschaftlicher Forschung noch immer in der Geschichte schwankt. Als Leiter der Auswanderungsbehörde musste Murmelstein mit Eichmann kooperieren und konnte in dieser Zeit auch viele Juden retten, später stellte er gemeinsam mit anderen jüdischen Funktionären zunächst in Wien Deportationslisten für die Vernichtungslager zusammen und war danach als einer der Judenältesten im Ghetto Theresienstadt wiederum für solche Listen zuständig. Bekanntheit erreichte seine ambivalente Persönlichkeit und die mit ihr verbundene Problematik durch Claude Lanzmanns Film Der Letzte der Ungerechten. Wie Lanzmann verbrachte auch das Wissenschaftlerpaar Leonard und Edith Ehrlich viele Tage und Wochen im Gespräch mit Murmelstein, der nach dem Krieg in Rom lebte.

Leonard H. & Edith Ehrlich,
edited by Carl S. Ehrlich:
Choices under Duress of the Holocaust.
Benjamin Murmelstein and the Fate of Viennese Jewry. Volume I: Vienna. Texas Tech University Press, 651 S.

Die Faszination, die Murmelstein und dessen moralisches Dilemma auf seine Eltern ausübte, sodass sie fast ein Drittel Jahrhundert mit dieser Thematik befasst waren, erklärt der Sohn heute so: „Murmelstein war im Vorkriegs-Wien der Religionslehrer meines Vaters gewesen, der ihn damals auf eine kindliche Weise bewunderte. Er war auch der Rabbi bei seiner Bar Mitzwa. Nach dem Krieg hatte man ihm dann die schlimmsten Sachen vorgeworfen, und diesen Vorwürfen wollte mein Vater auf den Grund gehen. In der Nachkriegszeit hatten meine Eltern die Philosophie entdeckt, und Murmelstein wurde für sie zum Ausgangspunkt einer philosophischen Fragestellung: nämlich historisches Gedächtnis contra historische Fakten bzw. wie erinnern sich Menschen an historische Ereignisse. Und an Murmelsteins Figur entzündet sich weiters die Frage: Gab es wirklich eine Wahl, hätte man anders handeln können oder war man zu einer bestimmten Handlungsweise gezwungen, und was sagt uns das über Judesein oder Menschsein. Primär mussten sich meine Eltern aber mit den historischen Fakten auseinandersetzen, um so überhaupt die Wahlmöglichkeiten in bestimmten Situationen feststellen zu können.“
Die Beantwortung der Schuldfrage, das heißt, wie schuldig ist Murmelstein und sind die Judenräte angesichts der Zwangslage, in der sie sich befanden wirklich geworden, lässt zumindest der erste Band noch offen. „Eine mögliche Antwort, nämlich die meiner Eltern, wird man erst am Ende des zweiten Bandes finden“, stellt Carl in Aussicht.
„Ich glaube, sie kommen zum Schluss, dass Juden, die in diese Position gelangten, nicht sehr viel Spielraum hatten und in vielen Fällen für ihre Gemeinde gearbeitet haben, was diese aber nicht wahrnehmen konnte, denn die Nazis hatten das sehr geschickt gemacht, in dem sie Juden gegen Juden arbeiten ließen.“
Weshalb sich so viele Menschen, unter anderem auch Doron Rabinovici und Robert Schindel, mit der ohne Zweifel charismatischen Person Murmelstein beschäftigt haben, an dem das moralische Dilemma beispielhaft deutlich wird, hängt, so Ehrlich, auch damit zusammen, dass er nicht nur der letzte Judenälteste von Theresienstadt, sondern einfach überhaupt der letzte Überlebende aus dieser Funktion war und bis in die 80er-Jahre interviewt und gefilmt werden konnte. Einerseits als machtlose Werkzeuge der Nazis, andererseits als Juden, die gerne die Arbeit der Nazis verrichtet haben, wurden Leute wie Murmelstein nach dem Krieg gesehen. Gerade neuere Forschungen erlauben aber ein differenzierteres Bild vom Handeln der Menschen in diesen Positionen. „Es war eben ein Seiltanz“, meint Carl Ehrlich.
Weil seine Eltern so oft von ihm gesprochen hatten, hat er auch selbst als Student Murmelstein bei einer Rom-Reise aufgesucht. „Ich kann mich aber erstaunlicherweise nur erinnern, dass wir Pizza zusammen gegessen haben. Sein Sohn Wolf war dabei, der sehr auf ihn aufgepasst hat. Er war wirklich der Hüter seines Vater und hat sein Leben damit verbracht, ihn zu verteidigen.“ Wolf war als Kind mit den Eltern in Theresienstadt und lebt in Rom.

»Nach dem Krieg hatte man ihm
(Rabbi Murmelstein) dann die schlimmsten
Sachen vorgeworfen, und diesen Vorwürfen wollte mein Vater auf den Grund gehen.«
Carl Ehrlich

Weit über diese eine Figur hinaus ist das leidvolle Schicksal der Wiener Juden in der Zeit von 1938 bis 1942 Thema des ersten Bandes. Josef Löwenherz, damals Amtsdirektor der IKG, kommt darin „eigentlich fast noch mehr vor als Murmelstein. Löwenherz ist schon 1960 gestorben, meine Eltern hatten aber noch mit dessen Frau und Sohn Kontakt.“ Ausgedehnte Recherchereisen führten die Ehrlichs nicht nur wiederholte Male in ihre Geburtsstadt, sondern auch schon sehr früh nach Theresienstadt. „Damals waren sie Pioniere, mittlerweile hat die Wissenschaft sie fast überholt, aber sie haben das Basiswissen erarbeitet.“

Edith und Leonard Ehrlich.
„Sie haben sich als Forschungspartner die Arbeit aufgeteilt.“ © Konrad Holzer

Ein symbiotisches Paar. Obwohl sie selbst die meisten ihrer Verwandten in der Schoah verloren hatten, haben sich die beiden nie als Opfer betrachtet. „Sie waren Flüchtlinge, Opfer waren für sie nur die Toten.“
Edith und Leonard hatten einander schon im Chajes-Gymnasium in Wien kennengelernt. Edith, geborene Schwarz, verdankt ihr Überleben einem Irrtum, denn eigentlich war eine andere Edith Schwarz für ihren Platz im Kindertransport nach England vorgesehen. Als 13-Jährige intervenierte sie dann von England aus bei einem Verwandten in Amerika erfolgreich für die Ausreise ihrer Eltern nach den USA und landete schließlich auch dort, wo ihr Kindheitsfreund, der mit seiner Familie gleich nach dem „Anschluss“ emigriert war, schon auf sie wartete. Sie heirateten, bevor Leonard als amerikanischer Soldat nach Europa geschickt wurde, und haben sich nach seiner Rückkehr 67 Jahre lang nie wieder getrennt. Jeder, der sie erleben durfte, hat diese ganz unwahrscheinlich symbiotische Paarbeziehung gespürt. Obwohl Edith als Germanistin und ihr Mann als Philosoph an der Uni lehrten, ist dieses große gemeinsame Werk nach Sohn Carl und Tochter Karin sozusagen ihr drittes Kind. „Sie haben sich als Forschungspartner die Arbeit aufgeteilt.“ Und das ging immer reibungslos? „Ich war zwar im Arbeitszimmer nicht dabei, aber ich denke, sie konnten sich auch fachlich streiten.“
Bis jetzt liegen die beiden „dicken Wälzer“ nur im englischen Original vor, über eine Übersetzung würde sich Carl, der ein makelloses Deutsch spricht, natürlich freuen. „Der nächste Band ist mein Sommerprojekt für dieses Jahr. Besonders am philosophischen Teil lag meinem Vater sehr viel, denn er ist sein philosophisches Vermächtnis. Natürlich wollten meine Eltern, dass ihr Werk wahrgenommen wird, obwohl sie überzeugt waren, dass sich sehr viele Leute darüber ärgern würden, denn sie haben darin auch durchaus kontroversielle Themen angeschnitten. Wir werden sehen, ob das stimmt oder ob es nichts mehr gibt, worüber man sich ärgern könnte.“

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