WINA: ME/CFS ist keine neue Erkrankung. Seit wann kennt man sie?
Golda Schlaff: Das ICD-System, die internationale statistische Klassifikation von Krankheiten und verwandten Gesundheitsproblemen, kennt ME/CFS unter diesem Begriff seit Ende der 1960er-Jahre. Zuvor hat man auch andere Begriffe dafür verwendet. Das Problem ist, dass an den Medizinischen Universitäten kaum etwas darüber an Studierende vermittelt wird. Wenn überhaupt, wird es am Rand erwähnt. Daher werden noch immer Patienten, die an ME/CFS leiden, oft als psychisch oder psychosomatisch erkrankt beschrieben. Das einzig Gute, das man über die Covid-Pandemie sagen kann, ist, dass dadurch auch ein Scheinwerfer auf ME/CFS geworfen wurde.
Ist Long Covid eine Form von ME/CFS?
I Ja, die extremste Form von Long Covid kann in Richtung ME/CFS gehen. Long Covid ist ein Sammelbegriff für verschiedenste Folgen einer SARS-CoV-2-Infektion. Wir bemühen uns nun aber auch, das genauer zu kategorisieren und phänotypisieren. Es gibt Leute, die nach einer Covid-Erkrankung mehr mit Lungenproblemen kämpfen, es gibt aber auch Patienten, die Herz-Rhythmus-Störungen entwickeln. Wenn es in diese Richtungen geht, ist es nicht ME/CFS. Wenn es aber in Richtung Belastungsintoleranz, Kraftlosigkeit, Dauererschöpfung geht, dann sollte man an ME/CFS denken und schauen, ob die Diagnosekriterien dafür erfüllt sind.
Wodurch wird ME/CFS ausgelöst?
I Es gibt verschiedene mögliche Auslöser. Meist sind es virale Erkrankungen, aber es kann auch nach bakteriellen Infektionen auftreten. ME/CFS kann zudem durch Operationen oder Unfälle getriggert werden. Es wurde zum Beispiel beobachtet, dass Menschen, die ein Zervikalsyndrom, also ein Trauma im Nackenbereich, etwa bei einem Autounfall, erlitten haben, manchmal ME/CFS entwickeln. Die häufigste Ursache sind aber bestimmte Virus-Infektionen. Doch auch die Ursachen sind noch längst nicht gänzlich erforscht, und wir wissen noch relativ wenig.
In Berichten von Betroffenen, die an schweren Formen von Long Covid erkrankt sind, kam mir immer wieder das Epstein-Barr-Virus unter. Gibt es hier einen Zusammenhang?
Epstein Barr ist ein Herpesvirus. Diese Viren sind insofern heimtückisch, als sie im Körper bleiben, wenn man sich einmal damit infiziert hat. Nach der aktiven Infektion kommt es zu einer Schlafphase. Kommt es irgendwann einmal später zu einer Schwächung des Immunsystems, zum Beispiel nach einer anderen Infektion, können Epstein-Barr-Viren wieder aufgeweckt werden. Tatsächlich sieht man bei vielen ME/CFS-Betroffenen, dass plötzlich das Epstein-Barr-Virus wieder aktiv ist. Aber auch da braucht es noch viel Forschung.
Wie viele an ME/CFS Erkrankte gibt es weltweit und wie viele in Österreich?
I Weltweit geht man von 17 Millionen Betroffenen aus. In Österreich lagen die Schätzungen vor dem Beginn der Covid-Pandemie bei bis zu 80.000 an ME/CFS Erkrankten, diese Zahl dürfte sich inzwischen verdoppelt haben. Diese Zahlen sind aber insofern nicht sehr zuverlässig, als ME/CFS oft nicht diagnostiziert wird. Die Prävalenz in der Bevölkerung liegt jedenfalls irgendwo zwischen 0,3 Prozent und 1,3 Prozent.
Wie wird ME/CFS diagnostiziert?
I Die Diagnose ist nicht einfach, weil es keine echten Biomarker gibt. Wird eine Standard-Blutuntersuchung veranlasst, fällt der Befund meist relativ normal aus. Leute gehen also zum Arzt, beschreiben ihre Beschwerden und bekommen gesagt, es sei alles in Ordnung und sie könnten weiter arbeiten gehen. Aber diese Leute sind nicht gesund, sie sind krank. Die Erkrankung wird nur leider von vielen Ärzten nicht erkannt. Die Diagnose sollte primär klinisch – also auf Grund der beschriebenen Symptome – gestellt werden. Und hier gibt es ein paar Hauptkriterien und Nebenkriterien, die erfüllt sein müssen. In Österreich orientieren wir uns hauptsächlich an den kanadischen Konsenskriterien.
Welche Symptome bringt diese Erkrankung nun mit sich?
I Die Hauptkriterien sind Fatigue, also eine Art permanente Erschöpfung, und PEM, die Post-exertionelle Malaise. PEM ist eine Art Belastungsintoleranz, man könnte auch sagen eine Störung im Energiestoffwechsel, vor allem in der physiologischen Aktivitäts- und Erholungsreaktion. PEM führt dazu, dass es bei Belastungen – meist zeitversetzt und dabei bis zu drei Tage später – zu einem Crash mit einer deutlichen Zustandsverschlechterung kommt. Man ist dann völlig kraftlos. Die auslösenden Belastungen können physisch oder psychisch sein, manchmal reicht schon eine Reizüberflutung. Es gibt hier verschiedene Abstufungen, die sehr individuell sind – für den einen ist ein Spaziergang zu viel, für jemand anderen ist es bereits das Zähneputzen oder sich im Bett umzudrehen.
Manche Betroffene, das sind dann mildere Fälle, können arbeiten gehen, aber alles andere fällt weg, also alle Freizeitaktivitäten, die Haushaltsführung etc. Diese Menschen kommen von der Arbeit nach Haus, müssen sich in einem dunklen Raum hinlegen und können einfach nicht mehr. Andere können das Haus überhaupt nicht mehr verlassen. Und ME/CFS geht auch oft mit POTS einher, das ist das posturale orthostatische Tachykardiesyndrom. Dabei kommt es plötzlich und immer wieder zu Herzrasen, das sich dann im Liegen meist bessert. POTS kann auch unabhängig von ME/CFS auftreten, vor allem nach einer Covid-Infektion, wird aber leider oft als psychische Störung oder Panikattacke fehldiagnostiziert.
Sie haben zudem von Nebenkriterien gesprochen. Welche weiteren Symptome gibt es bei ME/CFS?
I Betroffene leiden oft an Schlafstörungen, ganz typisch ist bei ME/CFS, dass der Schlaf nicht erholsam ist. Häufig kommen auch Gelenkschmerzen, Muskelschmerzen und Kopfschmerzen vor. Und dann gibt es noch die Störungen des autonomen beziehungsweise vegetativen Nervensystems. Das vegetative Nervensystem ist für alles zuständig, was automatisch im Körper abläuft – wie das Atmen, die Verdauung, die Durchblutung. Ist dieses gestört, kommt es zu Blutdruckschwankungen, die Temperaturregelung im Körper funktioniert nicht mehr, es kommt zu Verdauungs- und Blasenstörungen.
Es funktionieren also ganz basale Dinge nicht mehr.
I Ja, genau, das ist bei manchen stärker, bei anderen schwächer ausgeprägt. Es gibt aber auch noch neurologische und kognitive Symptome, wie Gedächtnis- und Konzentrationsschwierigkeiten. Viele Erkrankte klagen über Muskelschwäche. Da kostet es dann eben zum Beispiel schon zu viel Kraft, einen Lichtschalter zu betätigen oder sich im Bett umzudrehen. Es gibt aber auch hormonelle Störungen und Störungen des Immunsystems. Ein typisches Zeichen einer Immundysfunktion sind zum Beispiel häufig wiederkehrende Halsschmerzen. Es können aber auch neue Allergien und Unverträglichkeiten auftreten.
Sie sprachen von verschieden starken Ausprägungen von ME/CFS. Welche Formen gibt es?
I Es gibt eine milde, eine moderate, eine schwere und eine sehr schwere Form. Die Grenzen sind aber jeweils fließend. Es kann jemand schwer betroffen sein, dann wird es etwas besser. Oder aber umgekehrt, und der Zustand verschlechtert sich über die Jahre. Manche mild Erkrankte gehen arbeiten, können aber sonst nichts tun. Sich um Kinder zu kümmern, ist für Betroffene nahezu unmöglich. Sie fühlen sich permanent ausgelaugt.
Schwer Betroffene sind hausgebunden und brauchen zudem sehr viel Unterstützung im Alltag. Sie liegen eigentlich nur mehr im Bett, das Reden fällt ihnen schwer und birgt das Risiko, zu einem Crash zu führen. Sehr schwer Betroffene sind komplett bettgebunden und rund um die Uhr pflegebedürftig. Sie liegen meistens in der stillen Dunkelheit mit Kopfhörern und können kaum mehr mit anderen kommunizieren. Für manche ist sogar die Anwesenheit anderer Menschen schon eine Reizüberflutung. Das ist dann die wirklich schwerste Form.
Wie viele Personen sind von einem so schweren Verlauf betroffen?
I Solche Fälle bekamen in letzter Zeit etwas mehr Medienaufmerksamkeit. Das bedeutet aber nicht, dass alle ME/CFS-Fälle so extrem sind. Die ÖG ME/CFS, die Österreichische Gesellschaft für ME/CFS, geht davon aus, dass bis zu 25 Prozent der Betroffenen schwer oder sehr schwer erkranken. Bei geschätzt 80.000 bis zu 160.000 ME/CFS-Patienten in Österreich sind das tausende Menschen, die weitgehend hausgebunden oder im Extremfall sogar bettgebunden sind. Und nach jeder Covid-19-Welle kommen mehr dazu.
Ist ME/CFS heilbar?
I Derzeit ist es nicht heilbar – vielleicht wird es das aber eines Tages sein. Dazu müssen wir aber erst herausfinden, wieso ME/CFS im Detail entsteht. Heute kann man nur die Symptome lindern. Wichtig ist vor allem, Pacing zu betreiben. Pacing bedeutet, auf den Körper zu hören und einzuschätzen lernen, wann etwas zu viel ist. Betroffene müssen ihre Leistungsgrenze erkennen und können so Crashs vermeiden beziehungsweise reduzieren. Bei dem einen liegt diese Leistungsgrenze vielleicht bei zehn Minuten spazieren zu gehen, beim anderen ist es, in die Küche zu gehen und sich einen Tee zu kochen oder sich die Haare zu waschen. Es geht jedenfalls darum, es nicht zu einem Crash kommen zu lassen, denn dann verschlechtern sich alle Symptome massiv.
Warum ist ME/CFS bis zur Covid-Pandemie so stiefmütterlich behandelt worden?
I Durch SARS-CoV-2 sind plötzlich viel mehr dieser Fälle gleichzeitig aufgetreten. Das konnte man nicht mehr übersehen. Davor gab es nicht den einen Auslöser, sondern viele verschiedene, die es auch weiterhin noch gibt.
Sie arbeiten nun an einer Studie zu postakuten Infektionssyndromen (PAIS), in die sich auch ME/CFS einreiht. Was ist das Ziel dieser Studie?
I Mit einem ausführlichen Fragebogen haben wir in den vergangenen Monaten einerseits detailliert die Krankengeschichten und Symptome erhoben. Wir haben uns aber auch angesehen, wie das Gesundheitssystem mit Betroffenen umgeht. Rund 2.900 Personen haben hier vor allem im Raum Deutschland-Österreich-Schweiz (D-A-CH), aber auch aus anderen Ländern teilgenommen, der Fragebogen wurde sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch angeboten. Hier läuft derzeit die Auswertung. Ergänzend werden nun auch noch qualitative Interviews geführt.
Ziel ist es, möglichst viele Informationen zu den Beschwerden, Untersuchungen und Therapieversuchen zu sammeln. Diese Daten helfen, Hinweise auf mögliche Ursachen und Zusammenhänge zu liefern. Ziel ist es aber auch herauszufinden, was es strukturell im Gesundheitssystem braucht, um das Leben der Patienten zu erleichtern. Was man schon sagen kann, ist, dass die Versorgung derzeit unzureichend ist.
Heute sind und fühlen sich viele Betroffene allein gelassen. Was es hier daher sicher auch braucht, ist eine bessere Ausbildung im Medizinstudium sowie Fortbildungen für Allgemeinmediziner, Neurologen und Gutachter, damit diese die Schwere der Erkrankung adäquat einschätzen können. Wichtig wäre auch, dass es mehr Spezialisten für ME/CFS gibt. Derzeit gibt es einige Privat- und Wahlärzte, die sich hier spezialisiert haben. Sie sind alle ausgebucht, und man muss oft Monate auf einen Termin warten. Kassenärzte, die sich mit ME/CFS auskennen, gibt es kaum. Idealerweise müssten hier Anlaufstellen etabliert werden, die interdisziplinär arbeiten.
Man muss dabei aber auch beachten, dass einige Betroffene nicht mobil sind. Man muss sich auf diese Patientengruppe besser einstellen. Sie können zum Beispiel nicht zum Zahnarzt gehen. Hier muss es mehr aufsuchende Angebote geben. Es gibt für alles Lösungen, aber nun muss man einmal das Bewusstsein schaffen, dass es hier Lösungen abseits der bestehenden Angebote braucht. Ich denke hier auch in Richtung Telemedizin bei alltäglichen Konsultationen. Fehldiagnosen, wie sie derzeit gang und gäbe sind, verschwenden einerseits viel Zeit, führen aber auch zu falschen Therapieansätzen. Das kennen wir von Long-Covid-Betroffenen, bei denen Reha-Programme mit Aktivierungstherapien zu Crashes führten. Mit ME/CFS braucht es eben ganz andere Ansätze.
Was raten Sie Erkrankten, um schon jetzt zu einer besseren Versorgung zu kommen?
I Sie sollten unbedingt mit der ÖG ME/CFS, einer Selbsthilfeorganisation von Betroffenen, Kontakt aufnehmen. Sie hat derzeit die besten Informationen.
Und was kann man präventiv tun, um gar nicht erst an ME/CFS zu erkranken?
I Wenn man vor allem an Covid, aber auch viralen Infektionen erkrankt, sollte man das ernst nehmen und sich auskurieren und dem Körper Ruhe gönnen. Sport ist in dieser Zeit streng kontraindiziert.
Es wäre aber auch gut, Infektionen mit Covid-19 grundsätzlich zu vermeiden. Dabei hilft das Tragen von Masken – ich trage sie immer noch in vielen Situationen, vor allem bei größeren Menschenansammlungen. Viele Menschen wollen das heute nicht mehr. Daher wäre es wichtig, die Lufthygiene in öffentlichen Räumen wie Schulen, Büros, Restaurants zu verbessern. Hier helfen entsprechende Belüftungssysteme in Gebäuden. Diese einzubauen ist für manche aber eine Herausforderung, und das wird noch lange dauern.
Was schon jetzt möglich ist, ist häufiges Lüften und der Einsatz von Luftfilteranlagen mit HEPA-Filtern. HEPA-Filter können mit einfacher mechanischer Technologie Viren, aber auch Pollen einfangen und die Luft säubern. Ein wichtiger Beitrag wäre aber auch, dass Menschen, die sich krank fühlen beziehungsweise erkältet sind, nicht in die Arbeit oder Schule gehen beziehungsweise, wenn sie es tun, aus Rücksicht auf andere eine FFP2-Maske tragen.
Golda Schlaff,
geb. 1985 in Bratislava, aufgewachsen in den USA, der Slowakei und Österreich. Nach der Matura 2003 an der Zwi-Perez-Chajes-Schule in Wien Medizinstudium an der Medizinischen Universität Wien. Seit Mai 2024 Senior Scientist an der Abteilung für Primary Care Medicine am Zentrum für Public Health der MedUni Wien. Schlaff engagierte und engagiert sich neben ihrer Tätigkeit als Medizinerin zudem in verschiedenen Kontexten ehrenamtlich, etwa von 2003 bis 2013 im Forum gegen Antisemitismus oder seit 2015 bei dem von ihr mitbegründeten Verein Shalom Alaikum – Jewish Aid for Refugees. Schlaff ist verheiratet und Mutter zweier Kinder. Zu ihren Hobbys zählen Ballroom und Latin Dancing.