„Wenn man hat Töchter, so vergeht das Gelächter“

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Die Geschichte eines armen, weisen Juden zwischen Milchkühen und Töchtern im heiratsfähigen Alter gehört zu den bekanntesten Werken Scholem Alejchems. Von Anita Pollak

Da ist kein Fiedler auf dem Dach, und Wenn ich einmal reich wär wird auch nicht gesungen in Tevjeh der milchiger, dem jiddischen Original von Scholem Alejchem. Anatevka ist dort nur eines der Schtetl im Umkreis von Tewjes Wohnort Bojberik.

„Wenn man hat Töchter, so vergeht das Gelächter“, weiß der Milchmann, denn er hat gleich sieben davon, und sie alle bringen ihm kein Glück. Das wäre, in einem Satz, die inhaltliche Essenz des Episodenromans von Scholem Alejchem, der seinen Titelhelden in acht Geschichten sein Schicksal selbst beklagen lässt, stets verbunden mit der Bitte an sein stummes Gegenüber, doch ja kein Buch daraus zu machen.

„Der Jude muss hoffen und immer hoffen! Und wenn er dabei zugrundegeht? Nun, dazu sind wir ja eben Juden auf der Welt.“ Tewje

Ein Milchmann, der ihre Familie in der Sommerfrische mit Milch, Butter und Käse belieferte, war, so Scholems Tochter in einem Essay, Tewjes lebendes Modell, ein einfacher, frommer Mann, der sich durch häufiges Zitieren aus den heiligen Schriften und unerschütterliches Gottvertrauen auszeichnete, Eigenschaften, die auch den Charakter der Romanfigur kennzeichnen.
„Der Jude muss hoffen und immer hoffen! Und wenn er dabei zugrundegeht? Nun, dazu sind wir ja eben Juden auf der Welt“, so sein Credo, das ihn letztlich sein Hiob-Los erdulden lässt. Auf den einzigen „Haupttreffer“ seines Lebens, der ihm seine Milchkühe und damit seine Existenzgrundlage einbrachte, folgte bald „ein Hereinfall“, bei dem Tewje, der auch gern einmal reich gewesen wäre, wieder fast alles verlor.

Scholem Alejchem: Tewje, der Milchmann. Aus dem Jiddischen von Armin Eidherr. Manesse-Verlag, 352 S., EUR 20,50
Scholem Alejchem: Tewje, der Milchmann. Aus dem Jiddischen von Armin Eidherr. Manesse-Verlag, 352 S., EUR 20,50

Und dann das Unglück mit seinen schönen Töchtern, die, sobald sie ins heiratsfähige Alter kommen, Tewjes Hoffnungen auf eine gute oder auch nur annehmbare Partie enttäuschen. Statt des reichen Witwers heiratet die Älteste einen armen Schneider, eine andere folgt ihrem Revolutionär nach Sibirien, eine geht, verlassen von ihrem Geliebten, ins Wasser, für eine wird „Schiwe“ gesessen, weil sie einen Christen ehelicht – eben „Kinder von heute“, die ihren Eltern nicht mehr folgen, wie Tewje diese Liebesgeschichten und Heiratssachen mit frommen Sprüchen aller Art kommentiert. Seine naive Lebensklugheit, seine verschmitzten Auslegungen und Verdrehungen der Schriften je nach seinen Bedürfnissen, seine bildhafte, an der Bibel geschulte Sprache, sein gewitzter Humor trotz aller Schicksalsschläge machen den unvergleichlichen Reiz und Charme dieses armen weisen Juden aus.

Tewjes hat es wohl viele gegeben im Elend der ostjüdischen Schtetl im zaristischen Russland der Jahrhundertwende. Es ist die Welt Chagalls und seines Fiedlers auf dem Dach, der in Anatevka zum musikalischen Leitmotiv wird. Eine neue Zeit kündigt sich in der Ferne an, und sie verheißt für Juden nichts Gutes. Revolutionen, Pogrome, Vertreibungen bedrohen die Schtetl-Idylle. Doch Tewje überlebt so wie Cervantes’ „Don Quijote“ sogar als Musicalheld bis heute.

ZUR PERSON
Scholem Alejchem (Der Friede sei mit euch), 1859 als Schalom Rabinovitsch bei Kiew geboren, gilt als einer der Klassiker der jiddischen Literatur. Anfänglich schrieb er auf Russisch und Hebräisch, ab 1883 in jiddischer Sprache. Er besuchte das russische Gymnasium, studierte aber auch den Talmud. Literarisch verarbeitete er in seinen Werken wie sein großes Vorbild Mendele die Welt der Ostjuden im Umbruch. Er lebte in Kiew und Odessa, floh 1905 vor Pogromen und wanderte nach vielen Stationen in Europa nach Amerika aus. 1916 starb er in New York, am Tag seines Begräbnisses blieben alle jüdischen Geschäfte der Stadt geschlossen. Seine Werke wurden vielfach übersetzt, das Musical Fiddler on the Roof  wurde 1964 am Broadway uraufgeführt.

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