Der Westen schafft das Judentum ab‏

1852

Die Regierungen der freien Welt können ihre jüdischen Bürger nicht mehr ausreichend schützen. Man rät ihnen zur Verleugnung der eigenen Identität und spricht Hasskriminalität das Motiv des Antisemitismus ab. Es ist eine moralische Bankrotterklärung. Von Oliver Jeges   

Man muss immer kontextualisieren. Eine Million Euro sind relativ viel Geld, eine Million Yen relativ wenig. Während ein Sieg der deutschen Fußballnationalmannschaft gegen die Auswahl der Cook-Inseln als „business as usual“ gilt, wäre ein Sieg der Insulaner gegen Deutschland bald Feiertag in dem pazifischen Kleinstaat. Ein Kinnhaken auf offener Straße ist ein Delikt, im Boxring verbessert er die Punktewertung. Die Leiden des jungen Werther waren vor mehr als zweihundert Jahren ein Hit, wer heute so gestelzt schreibt, kann nur hoffen, vom Goethe-Institut auf Studentenniveau gefördert zu werden.

In Wuppertal entschied ein Gericht vor Kurzem, dass es sich bei dem Brandanschlag auf eine Synagoge durch palästinensische Jugendliche nicht um Antisemitismus handle.

Es kommt immer darauf an, wer etwas tut, wo und warum er es tut. Sitzt eine Person über Stunden regungslos auf einem Stuhl, könnte es sich um eine ernste psychische Erkrankung handeln, tut sie dies in einem Museum, handelt es sich um ein Kunstwerk. Wichtig ist eben der Kontext: eine von der kleinen Tochter blau angemalte Krawatte ist nicht mehr brauchbar, die von Picasso heute ein Vermögen wert. Die Umstände machen den Unterschied.

So auch, wenn es um einen Massenmord in einem jüdischen Feinkostladen geht. Bei der Anschlagserie in Paris im Januar dieses Jahres hielt ein radikaler Moslem mehrere Juden als Geiseln in einem Kosher-Store. Vier von ihnen hat er getötet. Wenige Tage später ordnete US-Präsident Barack Obama den Mord an den vier Juden praktisch als Anschlag aus dem Zufallsgenerator ein: „Ein paar Leute“ seien in einem jüdischen Deli „willkürlich erschossen“  worden. Ein judenfeindliches Motiv konnte der oberste Hüter der freien Welt nicht ausmachen.

Was logisch wäre, handelte es sich beim Täter um eine Figur wie Michael Douglas in dem Film Falling Down, einen labilen Charakter, den ein Megastau und die brütende Hitze von Los Angeles in einen Amoklauf treiben. Hätte also Jean-Jacques im Koscher-Laden keine Schweinsschulter für sein geliebtes Cassoulet bekommen und deswegen im Affekt vier Juden erschossen, könnte man der Tat fürwahr kein antisemitisches Motiv unterstellen. Auf den Kontext kommt es eben an. Der Täter gab sogar selbst in einem „Bekennervideo“ zu, „wegen der Juden“ genau jenen Supermarkt ausgewählt zu haben.

Doch die Relativierung des Attentats beginnt und endet nicht bei Barack Obama. Als nach dem Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo jenes zweite Attentat in einem jüdischen Supermarkt bekannt wurde, konnte man auf n-tv einem recht merkwürdigen Moment beiwohnen. Moderator Christoph Teuner führte durch die Sondersendung. Im Studio war Antonia Rados als Krisenexpertin zu Gast. Als Teuner eine Einschätzung zu den Taten von Rados wollte, fragte er, warum es denn gerade in Frankreich immer wieder zu heftigen Zusammenstößen zwischen Juden und Muslimen komme.

Heftige Zusammenstöße zwischen Juden und Muslimen in Frankreich? Frau Rados bemerkte die Schräglage der Fragestellung, gab aber offenbar aus Gründen der Höflichkeit, um Teuner nicht live zu brüskieren, eine diplomatische Antwort. In diesem Moment wisse man einfach noch zu wenig über die Hintergründe, so Rados. Doch ein Blick ins Archiv, der Waffe jedes Journalisten, hätte bereits gereicht: In Paris und anderen Städten wie Nantes und Toulouse gab es in den vergangenen Jahren zahlreiche Anschläge und Übergriffe gegen Juden. Die nicht mehr begehbaren Viertel rund um die französische Hauptstadt, die Banlieus, sind muslimisch dominiert und praktisch judenfrei. Synagogen und jüdische Einrichtungen werden rund um die Uhr von Wachdiensten beschützt. 2014 kam es unter anderem infolge der Pro-Gaza-Demos im Sommer zum größten Exodus französischer Juden nach Israel.

Es gibt in Frankreich keine Zusammenstöße zwischen Juden und Muslimen. Es gibt einige Muslime, die gezielt Jagd auf Juden machen. Das ist kein Konflikt auf Augenhöhe. Sonst wäre 9/11 ein heftiger Zusammenstoß zwischen den Büroangestellten des World Trade Centers und den Flugzeugentführern gewesen.

Wenn wir nach Frankreich schauen, aber auch nach Belgien oder Dänemark, kann man feststellen: Muslime sind die Jäger, Juden die Gejagten. Wiewohl man selbstverständlich differenzieren muss: Nicht alle Muslime sind Täter und nicht alle Juden sind Opfer. Man muss aber eben auch kontextualisieren: Die entfesselte Gewalt auf Europas Straßen gegen Juden ist seit geraumer Zeit fast ausschließlich islamisch, oder wie es korrekterweise heißen müsste, „islamistisch“ motiviert. Wenn man französische Juden fragt, von wem sie sich mehr bedroht fühlen, vom bis vor Kurzem offen antisemitischen Front National oder den gewaltbereiten Muslimen im Land, antworten sie in der Regel mit Letzterem. Immer mehr Juden sprechen sich sogar dezidiert für eine Präsidentin Marine Le Pen aus.

Der traditionelle Antisemitismus im Islam ist für europäische Juden nach den Anschlägen von Toulouse (2012), Brüssel (2014), Paris und nun auch Kopenhagen nicht mehr nur eine abstrakte Größe, sondern eine konkrete Gefahr. Während in den Jahren 1995 bis 2013 jährlich etwa 1.000 bis 3.000 Juden Frankreich in Richtung Israel verlassen haben, waren es 2014 mehr als 7.000. Für das Jahr 2015 rechnet die Jewish Agency, Israels Einwanderungsbehörde, mit 15.000. Das schwedische Malmö ist derart antisemitisch aufgeheizt, dass das Simon Wiesenthal Center 2010 eine Reisewarnung für Schweden ausgesprochen hat.

In der Schweiz trieben vor einigen Tagen hunderte Anhänger eines Fußballklubs einen als Rabbi verkleideten Fußballfan „symbolisch“ durch die Straßen. In Deutschland rät der Zentralrat der Juden jüdischen Mitbürgern vom Tragen der Kippa beziehungsweise Yarmulke ab, jener traditionellen Kopfbedeckung, die einen Juden eindeutig als solchen erkennbar macht. Im Sommer 2012 wurde der Berliner Rabbi Daniel Alter von einer Gruppe „südländisch aussehender“ Jugendlicher angegriffen und schwer verletzt. Heute wie damals wird hinterher viel mehr darüber diskutiert, ob man noch mit Kippa durch die Hauptstadt laufen könne, als die Ursachen für den giftigen Antisemitismus zu suchen.

In vielen europäischen Städten, unter anderem in Wien, findet jedes Jahr im März die Israeli Apartheid Week statt, eine Veranstaltung die den Boykott israelischer Produkte propagiert. In Wuppertal entschied ein Gericht vor Kurzem, dass es sich bei dem Brandanschlag auf eine Synagoge durch palästinensische Jugendliche nicht um Antisemitismus handle. Sie wollten nach Einschätzung des Gerichts nur ihren Frust über den Krieg in Gaza kundtun. Das Münchner Landgericht kam zu dem Entschluss, dass die Publizistin Jutta Ditfurth den rechten Publizisten Jürgen Elsässer in der Öffentlichkeit nicht mehr als „glühenden Antisemiten“ bezeichnen darf, wie sie das einmal in einem Interview mit der Kulturzeit auf 3sat getan hatte. Laut Münchner Gericht könne man von Antisemitismus nur im Zusammenhang mit der Zeit zwischen 1933 und 1945 sprechen. Der Judenhass wurde demnach in den Ruinen von Auschwitz begraben.

Isoliert betrachtet mag es sich bei all diesen Ereignissen um eine zufällige Abfolge ähnlich gelagerter Einzelfälle handeln. Man muss aber eben auch kontextualisieren. Im Großen und Ganzen betrachtet haben wir es mit der größten Welle des Antisemitismus seit Ende des Zweiten Weltkrieges zu tun. Es ist ein neuer, nicht nur, aber großteils aus der islamischen Welt importierter Judenhass. Europas Politiker finden nur leere Worte und gutmeinende Symbolpolitik bei dem Versuch, sich mit Juden zu solidarisieren. Schützen können sie sie nicht. Es ist eine moralische Bankrotterklärung. ◗

Bild: © apa picturedesk/ Maja Hitij

HINTERLASSEN SIE EINE ANTWORT

Please enter your comment!
Please enter your name here