Gibt’s keine größeren privaten Katastrophen, keine Todes- oder Krankenfälle im engeren Umfeld, bin ich immer bemüht, auf die höfliche Nachfrage „Wie geht’s dir?“ ebenso unverbindlich wie möglichst ehrlich mit einem positiven „Danke, gut“ zu antworten. Will denn das freundliche Gegenüber wirklich Details medizinischer Probleme oder psychischer Wetterlagen erfahren? Bestenfalls sind engste Mitmenschen an solchen Zustandsberichten interessiert, und diese verdienen dann leider auch entsprechende Antworten.
Seit einiger Zeit, genau genommen seit dem 7. Oktober 2023, will mir dieses scheinbar einfache „Gut“ nicht mehr so recht über die Lippen kommen. Und ebenso wenig oft auch die Frage „Wie geht’s dir?“ im näheren Freundes- und Bekanntenkreis. Menschen, die nicht nachhaltig von diesem Schreckenstag und seinen dramatischen Folgen erschüttert sind, zählen ohnehin nicht dazu. Und wenn ich dann doch, weil’s alte Gewohnheit ist, etwas zögerlich diese Frage wage, stoße ich meist auf eine zögernde, sorgenvolle Antwort.
Wie geht’s uns? Wie soll’s uns schon gehen?
„Jews dread the news“, war vor einigen Monaten in einer englischen Zeitung zu lesen.
Juden fürchten sich vor den Nachrichten, den Nachrichten in den Medien, in allen Medien. Wir fürchten uns vor den Worten, wir fürchten uns vor den Bildern. Vor facts and figures, vor echten und zweifelhaften. Denn wie „andere“ diese lesen, sehen, kommentieren, wissen wir mittlerweile zur Genüge.
Vor dem dröhnenden, weltweiten Echo dieser News fürchten wir uns. Es dringt zu uns, unüberhörbar. Gelingt es uns zuweilen, diese Nachrichten auszuschalten, abzuschalten, müssen wir befürchten, tags darauf könnten sie noch schrecklicher sein. Das Worst-Case-Szenario von gestern mag morgen vergleichsweise harmlos erscheinen.
Schlimmer geht’s immer, das haben wir rasch gelernt. Hoffnungen zerplatzen, bevor sie aufkeimen. Herzerwärmende Bilder von befreiten Geiseln, unerträglich lang scheint es her. Wann gab es zuletzt ernst gemeinte Verhandlungen?
Ja, gute Nachrichten gibt es auch, immer wieder. Der Mastermind des Infernos endlich eliminiert. Tausende Terroristen und ihre Anführer. Wie viele von ihnen gibt es noch? Wir haben gelernt, uns über Tote zu freuen, zwischen Opfern und Opfern zu unterscheiden. Feinde. Wir brauchen einen Kompass gegen die weitestverbreitete Täter-OpferUmkehr.
Israel, unseren Herzen so nah, scheint in fast unerreichbare Ferne gerückt. Natürlich kann man hinfahren, kein Problem, sagen manche. Man kann doch jetzt nicht hinfahren, die meisten. Unbeschwerter Urlaub am Strand von Tel Aviv? Fröhliche Besuche bei Verwandten?
Trotz täglicher, stündlicher Nachrichten, die Front ist dort und nicht hier, in unseren sicheren, warmen Wohnzimmern.
Und wie sieht es da aus, an der „Heimatfront“?
We dread the news, auch hierzulande. Wahlausgänge: Horror. Antisemitismuszahlen: nach oben offene Skala. Überall. Kein Zufluchtsort. Nirgends.
„Haben Sie keinen anderen Globus?“, soll ein verzweifelter Jude angesichts all der Länder, die ihn nicht aufnehmen wollten, als er emigrieren musste, die Auswanderungsstelle gefragt haben. Wir haben keinen anderen Globus.
Aber wir haben einander. Wir haben Familien, Freunde, Freundinnen, Schicksalsgenossinnen, und wir wissen jetzt umso mehr, was wir aneinander haben. Wir wissen auch, wo wir an Grenzen stoßen, wir spüren auch die unausgesprochenen. Wir schätzen und pflegen unsere Blasen. Mit Menschen, die uns nicht verstehen, müssen wir nicht unbedingt beisammen sein.
Wir fragen einander: „Wie geht’s dir?“ Und wir erwarten eine ehrliche Antwort. Wir fürchten uns vor den Nachrichten, gemeinsam. Wir sprechen miteinander über unsere Ängste und Sorgen, tauschen uns aus, bestätigen einander, scharen uns übers wärmende Herdfeuer Gleichgesinnter, seufzen gemeinsam, und oft lachen wir auch.
Und wir, unsere Generation mit der so genannten Gnade der späten Geburt, wir alle sind froh, dass unsere Eltern „das“ nicht mehr erleben mussten. Und wir hoffen und beten, dass unsere Kinder und Enkel „das“ gut überstehen, dass sie eine angstfreie Zukunft haben dürfen, wie sie uns vergönnt war. Uns ist es bis fast jetzt ja verdammt gut gegangen.