„Wie soll man das je abschließen?“

Edna Magders lange Suche nach der ermordeten Großmutter und das Erinnern an einen Menschen, den sie nie kennenlernen durfte.

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©Marta Halpert

Sie steht still und aufrecht in der kalten März-Sonne, trägt einen langen schwarzen Mantel und einen großen gelben Judenstern auf der Brust. Edna Magder befindet sich nur ein paar hundert Meter von jener Grube entfernt, in die ihre Großmutter am 14. September 1942 hineingeschossen wurde. „Das war mein Zeichen der Identifikation mit ihr: Meine Großmutter musste den gelben Stern tragen, und ich erlaube mir heute an diesem Ort daran zu erinnern.“ Der Ort ist der Wald von Blagowtschina unweit der weißrussischen Hauptstadt Minsk. Edna störte es keineswegs, dass die offizielle Delegation rund um Bundeskanzler Sebastian Kurz etwas irritiert dreinschaute. Wollte man das Gedenken im März 2019 an die hier ermordeten österreichischen Juden nur mit bewegenden Worten und beschichteten Namensschildern an Bäumen absolvieren? Funktioniert nicht, denn plötzlich steht ein menschliches Mahnmal da und erweckt ein erschreckendes Bild zum Leben.

Edna Magder: „Wie soll man das je abschließen?“ ©Marta Halpert

Doch Edna Magder, die 1940 im damaligen Palästina geboren wurde, geht es nicht um Provokation, sondern um das Erinnern an einen Menschen, den sie nie kennenlernen durfte, der sie aber ihr bewusstes Leben lang begleitete und beschäftigte. „Für meine Mutter und ihre Schwester war es ein traumatisches Erlebnis, dass sie sich zwar aus Wien retten konnten, aber ihre Mutter deportiert und ermordet wurde. Beide Frauen waren immer so traurig, wenn sie von ihr gesprochen haben. So wurde diese belastende Erinnerung auch ein Teil von mir“, erzählt die in Toronto praktizierende Psychotherapeutin. Immer wieder bat sie ihre Mutter, mit ihr nach Wien zu fahren, aber diese wehrte sich vehement. „Ich will dort nie wieder hin, ich höre noch, wie Freunde gesungen haben, ‚wenn Judenblut vom Messer spritzt‘, erinnert sich die Tochter an die Aussagen der Mutter. Erst 1991, fünf Jahre nach dem Tod der Mutter, begann Edna mit ihrem Mann David, anlässlich einer Europareise gemeinsam nach den Spuren von Theresia (Hanni) Löwy zu suchen. Es dauerte mehr als zwanzig Jahre, bis sie Gewissheit über ihr schlimmes Ende hatte.
In diesen Jahrzehnten besuchte sie mehrere Vernichtungsstätten des NS-Regimes und beteiligte sich auch in Wien immer wieder an Aktionen, die der Erinnerung an Schoah-Opfer gewidmet waren. So scheute sie auch Ende Oktober 2019 die Anreise aus Kanada nicht, um an der Buchpräsentation Das Massiv der Namen teilzunehmen. Diese Publikation aus dem Czernin Verlag erschien als Dokumentation zu dem von der Republik Österreich im März 2019 errichteten Denkmal in Maly Trostinec, Weißrussland. Dieser Ort, zwölf km südöstlich von Minsk, und der Wald von Blagowtschina zählen zu den größten Vernichtungsstätten des NS-Reiches: 1942 wurden hier 60.000 Menschen sofort nach ihrer Ankunft ermordet; knapp 10.000 davon waren jüdische Österreicher.

»Meine Großmutter musste den gelben Stern tragen,
und ich erlaube mir
heute an diesem Ort daran zu erinnern.«

Edna Magder

Legale Papiere. Ednas Wiener Eltern waren Zionisten und deuteten die dunklen Wolken über Europa richtig, daher wanderten sie bereits in den 1930er-Jahren nach Palästina aus. „Bald nach dem ‚Anschluss‘ kehrte meine tapfere Mutter nach Wien zurück, um ihre Mutter und die 15-jährige Schwester Herta zu retten. Unter großer Gefahr gelang es ihr, Herta großteils zu Fuß nach Jugoslawien zu lotsen, wo mein Vater wartete und sie sicher nach Palästina brachte.“ Ednas Mutter bemühte sich auch, die Großmutter auf ähnliche Weise außer Landes zu bringen, aber Oma Hanni wollte das Land nicht illegal verlassen. Ein Erlebnis in der November-Pogromnacht vom 9. November 1938 wiegte sie in falscher Sicherheit: Als eine Nazi-Bande in ihre Wohnung kam und im Vorraum das Foto des Großvaters in seiner Offiziersuniform aus dem Ersten Weltkrieg sah, salutierten sie, baten um Entschuldigung und gingen fort. Sie war überzeugt, als Offizierswitwe geschützt zu sein, und wollte warten, bis man legale Papiere zur Einreise nach Palästina für sie organisiert hatte. Um sich nicht selbst zu gefährden, musste Ednas Mutter Wien verlassen. Alle Bemühungen, die Großmutter rechtzeitig aus der Stadt zu bringen, blieben erfolglos. Bald danach brach der Kontakt zu ihr vollständig ab. „Meine Mutter hat ihre Schuldgefühle nie überwunden, dass es ihr misslungen war, meine Großmutter zur Ausreise zu bewegen.“
Nach dem Krieg versuchten die Schwestern unentwegt herauszufinden, was mit ihr geschehen war. Die ständig präsente Traurigkeit der beiden Frauen beeinflusste auch Ednas Leben. „Wir saßen vor dem Radio und lauschten den Vermissten-Suchdiensten – ich vor allem in der Hoffnung, eines Tages ihren Namen auf wunderbare Weise zu hören –, um diese schwere Last von ihnen und mir zu nehmen. Aber das geschah leider nie.“
Nach dem Militärdienst in Israel erwarb Edna ihren Master in Chemie an der Universität in Montreal. In Kanada lernte sie auch ihren Mann kennen, der sie tatkräftig bei der Recherche nach dem Verbleib der Großmutter unterstützte. Unausgesprochen hatte Edna das Mandat geerbt, weiterzusuchen und die Erinnerung an die Großmutter wachzuhalten. „Meine Mutter hinterließ mir nur fragmentarisches Wissen. Zum Beispiel, dass der Name meiner Großmutter angeblich auf Seite 145 des Totenbuches Theresienstadt aufschien, und das legte nahe, dass sie von dort nach Auschwitz deportiert und nie mehr zurückgekommen war.“ In dieser Annahme nahmen Edna und David an einer Gedenkreise nach Auschwitz-Birkenau teil, um dort der Großmutter zu gedenken. „Ich sagte Kaddisch für sie, konnte aber keine Registriernummer unter ihrem Namen finden.“
2006 fuhr das Ehepaar dann nach Theresienstadt; inzwischen hatte Edna sogar einen Wiener Genealogen engagiert, der nichts fand, und so landete sie beim Archivar der IKG. „Wolf-Erich Eckstein stand mir mit viel Geduld zur Seite. Theresia (Hanni) Löwy wurde am 9. Mai 1886 in eine orthodoxe Familie geboren, die zu den Misrachi-Zionisten gehörte. Meine Mutter und Tante Herta erzählten immer wieder stolz, dass sie zu jenen jüdischen Frauen zählten, die die Sargdecke für Theodor Herzl sticken durften.“ Hanny Löwy verwitwete mit 38 Jahren, weil Großvater Ignaz Yitzhak Brody seinen Kriegsverletzungen im Ersten Weltkrieg mit 41 Jahren erlag. Die junge Frau musste die beiden Mädchen alleine durchbringen, sie arbeitete für die Jüdische Gemeinde, besserte sich das Gehalt mit Nähen auf und indem sie jüdischen Studenten Kost und Quartier bot.
Erst als Edna 2011 in Wien mit Elisabeth Ben-David Hindler, Obfrau des Vereins Steine der Erinnerung, zusammengetroffen war, kam die überraschende Wende: Hindler war einer Namensgleichheit mit divergierenden Geburtsdaten auf die Spur gekommen. „Mit dem Meldezettel aus der Herminengasse 10, wo wir eine Erinnerungsplakette anbrachten, erfuhren wir dann, dass meine Großmutter nach Maly Trostinec ‚verzogen‘ war“, schüttelt die Enkelin den Kopf.
Von diesem Moment an trat Waltraud Barton mit ihrem Verein IM-MER Initiative Malvine – Maly Trostinec erinnern ins Leben von Edna Magder. Gemeinsam mit ihren erwachsenen Kindern schloss sie sich der Gruppenreise nach Maly Trostinec an und war endlich an der Todesstätte ihrer Großmutter angekommen.
Sie konnte jetzt Hanny Löwys Namensschild an einen Baum heften und ihr somit eine symbolische Ruhestätte geben. Bei der Einweihung des Massivs der Namen in Weißrussland vor sechs Monaten erzählte Edna von den Vorträgen, die sie in Toronto und Wien in Schulen gehalten hatte und dass sie jetzt die dritte Auflage ihres Buches über die Suche nach der Großmutter vorbereitet. „In Minsk fragte mich die österreichische Botschafterin, ob ich jetzt beruhigt sei und damit ‚abschließen‘ könne. – Wie soll man das je abschließen?“

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