Wie wollen wir uns erinnern?

Historiker und Museen entdecken im weltumspannenden COVID-19- Phänomen ein neues Sammlungsgebiet.

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Gemeinsam einsam. Eine Krise, die uns hoffentlich gestärkt hat. Damit wir uns daran erinnern können, werden Erinnerungsstücke gesammelt. ©Julia Rhinehart
©Lisa Höller-Tesar

Ein seltenes Phänomen wird uns dieser Tage zuteil. Egal, wo wir auf der Welt beheimatet sind, sehen wir unser Leben derselben Bedrohung ausgesetzt und unseren Alltag von denselben Einschränkungen und Ängsten geprägt. Wir sind uns bewusst, dass wir aktuell eine Zeiterfahrung machen, die als historisches Weltereignis – ähnlich wie die mittelalterliche Pestwelle oder die Spanische Grippe zu Beginn des 20. Jahrhunderts – Eingang finden wird in Geschichtsbücher und Ausstellungen. Dieses historische Bewusstsein ist bei einigen dermaßen stark, dass sie mit dieser Geschichtsschreibung nicht warten, bis die Pandemie ausgestanden ist und aus zeitlicher Distanz erzählt bzw. musealisiert werden kann. Ihr Drang nach Dokumentation ist so ausgeprägt, dass sie bereits im Frühling zur Hochzeit der globalen Corona-Ausbreitung damit angefangen haben, Sammlungsaufrufe zu starten. Denn es geht ihnen nicht darum, dass sie selbst aus einer individuellen Expertenperspektive heraus eine Corona-Historie verfassen. Es geht vielmehr darum, unterschiedliche Menschen dazu zu bringen, persönliche Erlebnisberichte, Fotos und Videos sowie Objekte zu teilen, die für sie in dieser außergewöhnlichen Zeit von Bedeutung sind. WINA möchte Ihnen einige Initiativen vorstellen.

 

Es geht darum, unterschiedliche Menschen dazu zu bringen, persönliche Erlebnisberichte zu teilen,
die für sie in dieser außergewöhnlichen Zeit
von Bedeutung sind.

©Anna Bolovich

Das Jüdische Museum Wien (JMW) ist in den sozialen Netzwerken sehr aktiv und versucht auf diesem Weg, mit seiner Besucherschaft Kontakt zu halten. Auch das JMW will etwas Bleibendes schaffen: Kinder werden dazu animiert, ihr Lieblingsobjekt aus der Sammlung zu malen und das Bild bzw. ein Foto von ihrem Kunstwerk an das Museum zu schicken.
Das Haus der Geschichte Österreich bietet seinen virtuellen Besuchern und Besucherinnen an, Fotos, die ihren Alltag in der Krise zeigen, für eine Web-Ausstellung hochzuladen. Es freut sich auch über Tweets und Videomaterial und geht das ganze Projekt mit Humor an: „Soweit es unsere Ressourcen zulassen, dokumentieren wir diese globale Situation auch anhand von Gegenständen (der FALTER 12/20 berichtete): Unser erstes ‚Corona-Objekt‘ war eine Packung Toilettenpapier.“

Einen Schritt weiter geht eine Kooperation der Universitäten Hamburg, Gießen und Bochum. Sie haben eigens ein Corona-Archiv ins Leben gerufen und dafür eine Website angelegt, auf der Betroffene (also wir alle) Erlebnisse, Gedanken, Medien etc. hochladen können. Dabei geht es den Betreibern darum zu zeigen, wie unterschiedlich Menschen die Krise erleben. „Diese Diversität möchten wir durch eine Dokumentation der Gegenwart einfangen und für die Nachwelt erhalten.“ Das Jüdische Museum Berlin sammelt speziell Material zu „Pessach in Zeiten von Corona“, als die meisten Familien nicht wie gewohnt miteinander den Sederabend verbringen konnten. Dabei geht es so traurigen Fragen nach wie „Wie feiern Sie den Sederabend, wenn kein Kind da ist, um das Ma nischtana zu singen?“ oder „Wie sieht Ihre Sederplatte aus, wenn vielleicht nicht mehr alles rechtzeitig besorgt werden konnte?“

Oberkantor Shmuel Barzilai beim Gebet im leeren Wiener Stadttempel. Gläubigen ist die Teilnahme via LiveStream möglich. ©Dvora Barzilai

Das Wien Museum wählt einen spielerischen Ansatz. Unter dem Titel Corona in Wien: ein Sammlungsprojekt zur Stadtgeschichte werden Menschen eingeladen, Fotos von Objekten zu schicken, die ihnen während der Krise besonders wichtig sind. Aus der Fülle von Einsendungen wählt das Museum dann Objekte aus, die in die Sammlung übernommen und der Öffentlichkeit präsentiert werden. Gehäkelte Corona-Viren sind da ebenso zu finden wie humorvolle Plakate und Fotos von leeren Klopapierregalen in Supermärkten.
Über all den Projekten und Initiativen steht die Frage „Wie wollen wir uns erinnern?“. Wir alle haben hier die seltene Chance, Geschichte (mit) zu schreiben. Spannend bleibt, wie wir unser zusammengetragenes Material nach der Krise betrachten und bewerten werden.

Toilettenpapier, ein Objekt der Begierde in der Krise. ©Tina Brunner/hdgö


KRISE FÜR DIE EWIGKEIT –
ONLINE-SAMMLUNGSPROJEKTE
hdgoe.at/corona_sammeln
wienmuseum.at/de/corona-sammlungsprojekt
jmberlin.de/sammlungsaufruf-pessachseder-corona
coronarchiv.geschichte.uni-hamburg.de
jmw.at/de/fuer-kinder-und-familien

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