Wiederentdeckung eines genialen Solitärs

In Salzburg und München wird derzeit mit viel Jubel und Wertschätzung den wiederentdeckten Werken des polnisch-jüdischen Tondichters Mieczysław Weinberg begegnet.

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Der Idiot. Weinbergs Oper wurde dieses Jahr auch in Salzburg zum Triumph. © BARBARA GINDL / APA / Picturedesk.com

An der ausverkauften Bayerischen Staatsoper in München feiert das junge wie auch etwas ältere Publikum die Aufführung von Mieczysław Weinbergs Oper Die Passagierin mit stehenden Ovationen. Und das zurecht, denn hier kann man erleben, wie bei diesem 1968 für das Moskauer BolschoiTheater komponierten Werk das Verstehen und die Verantwortung ineinandergreifen.

Das beweisen der Regisseur Tobias Kratzer und der Dirigent Vladimir Jurowski in dieser Produktion vorbildlich. Das dramatisch verstörende Libretto um eine KZ-Aufseherin hat Kratzer ohne plakative Klischees packend realisiert. Generalmusikdirektor Jurowski hat alles gestrichen, was nur entfernt nach Konzession an die frühere sowjetische Kulturpolitik schmeckt. Und das ist eine ganze Menge, wie man dem abgedruckten Originaltext im Programm entnehmen kann. Gerade dadurch wird die Musik des polnisch-jüdischen Komponisten noch machtvoller, eindringlicher und mitreißender.

Der internationale Durchbruch dieser Oper nach 42 Jahren ist vor allem den Bregenzer Festspielen zu verdanken – und dafür soll man großes Lob aussprechen. Während die konzertante Uraufführung am 25.Dezember 2006 im Moscow International House of Music stattfand – zehn Jahre nach Weinbergs Tod –, ging die szenische Uraufführung am 21.Juli 2010 bei den Bregenzer Festspielen über die Bühne. In der Folge wurde die Produktion an Bühnen in Frankfurt, Karlsruhe, Gera, Braunschweig, Graz und Innsbruck gezeigt.

„Diese Oper gehört ins Repertoire“, schreibt Bernhard Neuhoff auf BR-Klassik über die Aufführung von Mieczysław Weinbergs Oper Der Idiot bei den Salzburger Festspielen 2024. „Es ist die ungewöhnlichste und wohl riskanteste Produktion der diesjährigen Festspiele“, meint der Kritiker. Woran liegt es also, dass das Salzburger Publikum, dem ja gern ein gewisser Hang zur Kulinarik unterstellt wird, nach dreieinhalb intensiven Stunden in Jubel ausbricht, inklusive Trampeln und rhythmischem Klatschen? Vor allem ist da die ungemein kraftvolle Musik. Seine siebte und letzte Oper, basierend auf Fjodor Dostojewskis Roman, entstand 1986–1987 und wurde erst 2013 vollständig uraufgeführt. Hier klingt Weinberg sehr eigenständig, zugleich opulenter, komplexer und noch intensiver als bei der Passagierin, die er 20 Jahre früher geschrieben hatte.

 

„Seine ‚Antikriegswerke‘ rufen tiefe Trauer wach und kommen
ganz ohne propagandistischen Zeigefinger aus.“
Isabel Herzfeld

 

Doch wer war dieser hochbegabte Musiker, der verschiedene Welten zwischen Glück und Grauen durchlebte und gewissermaßen selbst ein „Passagier“ war? Mieczysław Moissej Weinberg wurde 1919 in Warschau geboren und starb 77 Jahre später 1996 in Moskau. Zwischen diesen beiden Stationen entfaltet sich das Leben des Komponisten entlang von Brüchen, die das ganze 20. Jahrhundert prägten. Diese Brüche formten seine gesamte künstlerische Identität und hinterließen in seinem Schaffen tiefe Spuren.

Weinbergs Vater Shmuel war Geiger und Theatermusiker, der auch die Abteilung für jüdische Musik bei der Schallplattenfirma Syrena leitete: Operetten und Couplets, jüdische Melodien und polnische Tanzrhythmen speisten Weinbergs früheste musikalische Erfahrungen – im Theater war er vom sechsten Lebensjahr an immer dabei. Im jüdischen Viertel Warschaus führte die Familie, zu der bald auch die kleine Schwester Esther zählte, ein einfaches und hartes Leben. Mieczysław, der früh das Klavierspiel erlernte, steuerte daher schon in jungen Jahren seinen Verdienst zum Familienbudget dazu: Er spielte auf Hochzeiten und in Kinos, vor allem aber in den vielen Tanzcafés des lebendigen Warschauer Nachtlebens.

Bereits mit zwölf Jahren wurde er Schüler am Warschauer Konservatorium, zwei Jahre später unterrichtete ihn Józef Turczy ski, der als Mitherausgeber der Paderewski-Chopin-Ausgabe bekannt ist und damals als der namhafteste Klavierpädagoge Polens galt. Schon zu dieser Zeit entstanden auch die ersten Kompositionen, kleine Mazurken, erstmals mit Mieczysław gezeichnet. Als Student verdiente der Talentierte sein Geld mit Improvisationen im Warschauer Nobelrestaurant Adria. Als er dem berühmten Pianisten Józef Hofmann vorspielen durfte und dieser ihn zum Weiterstudium am Curtis-Institut in Philadelphia einlud, schien seine Karriere als Klaviervirtuose gesichert. Das war wenige Monate vor dem Überfall der deutschen Wehrmacht im September 1939, und der Zwanzigjährige sah sich plötzlich zur Flucht gezwungen. Damit zerbrach die nach Weinbergs Erinnerungen „beste und glücklichste Zeit“ seines Lebens.*

© weinbergsociety.com

Verlust, Liebe und Freundschaft. Auf der Flucht vor den Nazitruppen verlor er Vater und Schwester, die beide ermordet wurden. Ins weißrussische Minsk gerettet, studierte er dort Komposition, doch wenige Tage nach seinem Studienabschluss musste er wiederum vor dem deutschen Angriff – diesmal auf die Sowjetunion – fliehen. Weinberg gelangte in das knapp 4.000 Kilometer entfernte Taschkent, Hauptstadt der sowjetischen Republik Usbekistan. Dort lernte er Natal’ja Vovsi-Michoels kennen und lieben, die Tochter des berühmten jüdischen Schauspielers und Gründers des Staatlichen Jüdischen Theaters Moskau Solomon M. Michoels.

Ebenfalls in Taschkent vollendete der junge Komponist seine 1. Symphonie op.10, die in die Hände von Dmitri Schostakowitsch gelangte. Dieser erkannte Weinbergs Talent und bewegte ihn dazu, mit seiner Familie nach Moskau zu übersiedeln. Schostakowitsch war das große Glück in Weinbergs Leben: Es entspann sich eine lebenslange Freundschaft voll gegenseitiger Wertschätzung, Solidarität und Inspiration.

„Schostakowitschs Unterstützung war für den sensiblen, scheuen Weinberg ständige Ermutigung. ‚Er ist ein guter Komponist, ein guter Mann mit einem rechtschaffenen Charakter, aber definitiv zu bescheiden‘, äußerte sich Schostakowitsch über ihn.“** Unermüdlich setzte sich der dreizehn Jahre ältere Schostakowitsch für Aufführungen von Weinbergs Werken ein, war sein Fürsprecher bei Anfeindungen durch den Komponistenverband und sorgte dafür, dass seine Freunde, die weltbesten Interpreten, seine Werke aufführten: Mstislaw Rostropowitsch, David Oistrach, Leonid Kogan, Rudolf Barshai.

Schostakowitsch steckte den jüngeren Kreativen mit seiner Mahler-Begeisterung an, dieser wiederum vermittelte ihm die jüdische Folklore. Deren Echo findet sich am deutlichsten im Klaviertrio op. 67 in Schostakowitsch’ Liederzyklus Aus jüdischer Volkspoesie. Um die Produktion von Streichquartetten entstand zwischen beiden Komponisten ein regelrechter Wettbewerb; letztlich schaffte Schostakowitsch 15, Weinberg 17. Die musikalische Seelenverwandtschaft ging so weit, dass Weinberg einem Bericht seiner Frau zufolge Themen „vorausträumte“, die dann bei Schostakowitsch tatsächlich auftauchten. Legendär wurden die vierhändigen Aufführungen ihrer Werke mit beiden Freunden am Klavier; ihre Symphonien, auch die niemals aufgeführten, konnten sie so ausgewählten Kreisen zugänglich machen.

Ab 1946 gerieten beide in die Mühlen stalinistischer Kulturpolitik, Werke Weinbergs, die zunächst hoch gelobt wurden, wurden plötzlich als „formalistisch“ oder „modernistisch“ kritisiert. Die Passagierin, die die Hölle von Auschwitz gänzlich unpathetisch anklagt und doch Menschlichkeit im Erinnern aufscheinen lässt, musste sich den Vorwurf des „abstrakten Humanismus“ gefallen lassen. Im Januar 1948 wurde Solomon M. Michoels, der Schwiegervater des Komponisten, in einem fingierten Autounfall von Stalins Schergen ermordet. Daraufhin wurde Weinberg auf Schritt und Tritt überwacht, ihm wurden feindliche Umtriebe unterstellt, seine Musik wurde kaum mehr aufgeführt oder veröffentlicht. Am 6. Februar 1953 erfolgte die Verhaftung Weinbergs als „jüdischem bourgeoisen Nationalisten“, er kam für vier Monate in Haft. Ob Schostakowitschs mutiger Brief an die Behörden oder lediglich Stalins Tod im März 1953 seine Freilassung bewirkten, bleibt ungeklärt.

Es dauerte Jahre, bis Weinberg wieder zu seiner früheren Schaffenskraft zurückfand. Gleichzeitig begann er, sich in seiner Musik mit den Themen des Heimatverlustes, des Krieges und der Shoah zu beschäftigen und die eigene Identität als Pole und Jude kompositorisch auszuloten.

„Produktivität und Kreativität grenzten angesichts solcher Lebensumstände an ein Wunder. Mehr als 150 Werke, darunter mehrere Opern, 21 Symphonien und die bereits erwähnten 17 Streichquartette, sind das Ergebnis eines unaufhörlichen wie getriebenen Schaffensprozesses, als sei auch der eine Flucht vor den erlittenen Schrecken“, schreibt Isabel Herzfeld in ihrer Würdigung Weinbergs für die Berliner Philharmoniker.

„Auch seine ‚Antikriegswerke‘ rufen tiefe Trauer wach und kommen ganz ohne propagandistischen Zeigefinger aus. Viel eher blitzen immer wieder Zärtlichkeit, Witz und Ironie durch, es klingt nie so hart und bitter wie bei seinem Freund Schostakowitsch“, urteilt die Musikkritikerin Herzfeld. „Die kleine Oper Mazel Tov (Glückwunsch) strotzt vor knallbunter Komik mit rebellischem Unterton und funkelnden Witz.“

Der Kalte Krieg brachte allen nicht eindeutig „dissidenten“ Musikern den Bannfluch, und nach dem Zerfall der Sowjetunion war die Konfrontation um den sozialistischen Realismus wenig gefragt. „Furore machte nur das Antikriegsdrama Die Kraniche ziehen mit Weinbergs wunderbarem Soundtrack, das bei den Filmfestspielen in Cannes 1958 die Goldene Palme errang“, so Herzfeld.

Weinbergs Opern sind geniale Solitäre der Musik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ja, die Themen sind schwierig, doch das sollte keinen daran hindern, sich diesen faszinierenden Erlebnissen auszusetzen, denn „wenn das Echo ihrer Stimmen verhallt, gehen wir zugrunde“, ist das Fazit der Passagierin. Das gilt auch für ihren Schöpfer Moissej Mieczysław Weinberg.


* Einige Zitate von Verena Mogl, Musikwissenschafterin mit Forschungsschwerpunkt russische und sowjetische Musik. Ihre Dissertation erschien unter dem Titel Juden, die ins Lied sich retten – der Komponist Mieczysław Weinberg (1919–1996) 2017 im Waxmann Verlag.
** Zitat aus einem Text von Isabel Herzfeld für die Berliner Philhamoniker.

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