„Wien ist meine musikalische Heimat“

Die israelische Sopranistin Chen Reiss lebt in London und zählt heute zu den besten Interpretinnen von Richard Strauss. Kürzlich präsentierte sie die CD Jewish Vienna mit Werken jüdischer Komponisten vom Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts.

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Chen Reiss
In Herzliya geboren, begann Chen mit fünf Jahren, Klavier zu spielen, und mit sieben, Ballett zu tanzen. Gesangsunterricht erhielt sie ab ihrem 14. Lebensjahr, ihr Studium absolvierte sie in New York. Auf Anraten von Zubin Mehta sang Chen in der Bayrischen Staatsoper München vor: Sie bekam sofort einen festen Dreijahresvertrag. Es folgten Gastspiele an der Mailänder Scala, der Semperoper Dresden, der Deutschen Oper Berlin, dem Royal Opera House London sowie an den Opernhäusern in Hamburg und Philadelphia. 2010 hörte sie Dominique Meyer am Théâtre des Champs-Elysées in Paris und engagierte sie an die Wiener Staatsoper. Ab 2020 sang Chen Reiss mit Orchestern in Rom, Rotterdam, Prag, Köln, Nürnberg, Barcelona, Paris, Istanbul und Moskau. Foto: Daniel Shaked

WINA: Wir vermissen Sie in den zahlreichen Partien, die Sie als Sopranistin an der Wiener Staatsoper gesungen haben. Das waren doch in der Direktionszeit von Dominique Meyer sicher rund 150 Vorstellungen?

Chen Reiss: Ja, das stimmt. Im Jahr 2009 hatte ich mein Debüt an der Wiener Staatsoper als Sophie im Rosenkavalier von Richard Strauss. Von 2011 bis 2020 hatte ich einen Residenzvertrag* an der Oper in Wien; das ermöglichte mir, auch Konzerte z. B. im Musikverein zu geben und mich weiterzuentwickeln. Dieser Vertrag mit der Staatsoper lief aus.

 

Sie waren kürzlich in Österreich, und zwar für ein Gastspiel mit der Filharmonie Brno unter der Leitung von Dennis Russell Davies in der Stiftsbasilika von St. Florian. Da sangen Sie mit großem Erfolg Die vier letzten Lieder von Richard Strauss für Sopran und Orchester nach drei Gedichten von Hermann Hesse und einem von Joseph von Eichendorff. Ist dieses Programm Teil einer Tournee?

I Dieses Konzert fand nur im Rahmen der OÖ. Stiftskonzerte statt. Aber mit der Filharmonie Brno unter Russel Davies, der seit 2018 künstlerischer Leiter und Chefdirigent dieses Orchesters ist, hatten wir schon im Winter 2024 im Musikverein in Wien und in Brünn ein Projekt mit Werken von Gustav Mahler und Erich Wolfgang Korngold. Nächstes Jahr gehen wir dann gemeinsam auf Tournee. Unsere Zusammenarbeit reicht in die Zeit, als der gebürtige Amerikaner Chefdirigent des Bruckner Orchesters Linz war und ich mit ihm im Brucknerhaus 2013 zum ersten Mal Mozart-Arien und Mahlers Vierte sang. Das gleiche Programm führten wir später in Innsbruck, Graz und Wien auf.

 

In Wien kennt man Sie vor allem durch Ihre Mozart- und Beethoven- Partien oder als Gilda in Verdis Rigoletto. Derzeit gelten Sie als beste Interpretin von Richard-Strauss-Liedern. Beispielsweise interpretierten Sie 2022 im Wiener Konzerthaus sechs Orchesterlieder des Komponisten unter Leitung von Lahav Shani, darunter Wiegenlied, Ich wollt ein Sträußlein binden und Morgen. Wie kam es dazu?

I Richard Strauss singe ich seit 2006, da war ich Ensemblemitglied der Bayrischen Staatsoper in München. Aber auch in Israel war ich die Sophie im ersten Rosenkavalier, den Maximilian Schell für die Israel Opera inszeniert hat. Werke von Richard Wagner wurden damals überhaupt nicht gespielt, Musik von Richard Strauss sporadisch. Ich kann mich gut erinnern, wie Tommy Lapid**, damals Vorsitzender des Yad Vashem Councils der Gedenkstätte in Jerusalem, zur Generalprobe nach Tel Aviv kam und mir zuflüsterte: „Das ist eine meiner Lieblingsopern, ich freue mich so, sie in Israel zu hören, aber zur Premiere kann ich nicht offiziell erscheinen …“

 

Wie ist es für Sie als Israelin mit ungarischen Wurzeln und ihrem Geschichtswissen um diese Komponisten, diese auch zu singen?

I Es sind großteils fantastisch gute Komponisten wie Carl Orff und Richard Strauss, die politisch mit den Nazis liiert waren. Wenn wir das politisch nicht goutieren, heißt das noch nicht automatisch, dass sie auch schlechte Musiker waren, obwohl sie auf der falschen Seite der Geschichte gestanden sind. Natürlich ist es bei Strauss sehr ambivalent, denn es ist bis heute nicht gesichert, ob er gezwungen war, seine politische Meinung für die Nazis zu äußern, ob er das wirklich geglaubt hat oder nur ein Opportunist war. Fakt ist, dass seine Musik unglaublich schön ist, meine zweite Strauss-Partie sang ich 2010 als Zerbinetta in Ariadne auf Naxos in Israel. In Japan debütierte ich mit Frau ohne Schatten, und da ich viele seiner Opern gesungen hatte, war mir Strauss’ Musik sehr vertraut. Das ebnete mir auch den Weg zu seinen Orchesterliedern, die ich während der Covid-Pandemie einzustudieren begonnen hatte. Diese Lieder haben irgendwie auf mich gewartet, weil sie auch eine reifere Stimme brauchen. Ab 2020 habe ich sie von Spanien bis Frankreich und von Österreich bis Israel gesungen, denn sie sind sehr populär. Obwohl deutsch gesungen, strahlen das erste und das dritte Lied – von den insgesamt vier – eine gewisse „Italianita“ aus, und es gibt sehr virtuose, opernhafte Passagen.

„Ich liebe meine musikalische Mission,
denn ich sehe laufend, wie meine Kollegen und Kolleginnen weltweit durch das Politisieren – vor allem in den Social Media – einander fremd werden.“


Vor Kurzem haben Sie Ihre neue CD mit dem Titel Jewish Vienna präsentiert. Da singen Sie Musik jüdischer Komponisten des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Was hat Sie daran so interessiert?

I Das ist mein zweites Projekt mit dem Jewish Chamber Orchestra Munich (JCOM), das erste war eine CD mit Arien und Liedern der Geschwister Fanny Hensel und Felix Mendelsohn-Bartholdy. Die Zusammenarbeit mit diesem Orchester unter der Leitung von Daniel Grossmann ist eine musikalische Liebesgeschichte, wir haben sehr viele Konzerte miteinander gemacht.

 

Wie entstand die Idee zu Jewish Vienna?

I Unsere gemeinsame Leidenschaft war es, unbekannte Musik jüdischer Komponisten wieder zum Leben zu erwecken und sie dem Publikum schmackhaft zu machen. Zuerst dachten wir natürlich an Gustav Mahler, aber wir wussten, dass schon sehr viel Mahler gespielt wird. Da Wien meine musikalische Heimat ist – die Stadt, in der ich mich als Künstlerin, als Sängerin zu Hause fühle –, wollte ich ihr eine Hommage darbringen. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts entfaltete sich hier eine Blütezeit jüdischer Kunst und Kultur, wie es in kaum einer anderen Stadt Europas der Fall war.


Auf wen fiel Ihre gemeinsame Wahl für diese CD?

I Im Zentrum des musikalischen Lebens dieser Ära stand Gustav Mahler. Er war der große, starke Baum, aus dem sich viele kreative Komponisten als blühende Zweige entfalteten. Und genau diese Verknüpfungen möchten wir auf dem Album hörbar machen. Die heiteren Walzer-Gesänge z. B. von Alexander Zemlinsky aus dem Jahr 1898, die den Auftakt dieses Albums bilden, zeigen das bereits sehr deutlich. Zemlinskys Mutter, geboren in Sarajevo, war die Tochter einer Muslima und eines sephardischen Juden. Ihr Ehemann, Zemlinskys Vater, stammte aus einer katholischen Familie, konvertierte jedoch zum Judentum und wurde Sekretär der sephardischen Gemeinde in Wien.
1890 gewann Alexander Zemlinsky bei einem Klavierwettbewerb die Goldmedaille sowie einen Bösendorfer- Konzertflügel, den er später dem berühmten Musikkritiker Julius Korngold zur Verfügung stellte. Man nimmt an, dass sein Sohn, der spätere Komponist Erich Wolfgang Korngold, auf diesem Instrument spielte. Das Wunderkind erhielt Unterricht bei Zemlinsky; und Mahler soll den jungen Korngold schon im Kindesalter als Genie bezeichnet haben. Es gibt wunderbare Musik von Korngold und Alfred Grünfeld: Der gebürtige Prager lebte in Wien und starb hier 1924.


Sie bringen auch ein Werk von Josefine Auspitz-Winter, einer Wienerin. Erzählen Sie uns, wie Sie deren Lied Im Buchenwald entdeckt haben?

I Ich bestand darauf, dass wir eine Komponistin aus dieser Zeit suchen. Wir fanden einige, aber Josefine Winter war die interessanteste: 1873 in Wien geboren, blieb ihr großes musikalisches Talent lange unentdeckt. Obwohl sie früh Klavierunterricht erhielt, wurde ihr die akademische Musikausbildung verweigert, weil sie ein Mädchen war. 1900 lernte sie durch den Hausarzt der Familie, Josef Breuer, der ein wesentlicher Impulsgeber für Sigmund Freuds Entwicklung der Psychoanalyse war, ihren späteren zweiten Ehemann, den Arzt und Lyriker Josef Winter kennen, der sie in ihrer musikalischen Entwicklung förderte. Josefine war mit Gustav Mahler befreundet und erlebte die Uraufführung seiner 8. Sinfonie in München. Im Buchenwald haben wir im Archiv gefunden, und der tiefe Zauber und die große Spiritualität dieses Liedes beweisen, dass viele jüdische Musikerinnen und Musiker schon zu diesem Zeitpunkt die Zukunft erahnen konnten.


Wie erging es Josefine Winter ab 1938?

I Als Jüdin war sie ab dem „Anschluss“ Österreichs schlimmen Repressionen unterworfen: Zunächst wurde sie gleich 1938 in eine Sammelwohnung gebracht und am 15. Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo sie am 20. Januar 1943 starb.


Wie ergeht es Ihnen als Israelin in der Musikwelt nach dem Massaker vom 7. Oktober 2023?

I Beruflich hatte ich keine Absagen von geplanten Auftritten, diese wurden respektiert und bestätigt. Doch bei neuen Projekten, als wir z. B. Jewish Vienna für Live- Abende angeboten haben, sagten zwei Veranstalter, wir sollten noch etwas damit warten, denn es sei „jetzt nicht die richtige Atmosphäre für so ein Programm“. Unser Argument, dass dieses Programm weder etwas mit Israel noch mit Palästina zu tun hätte, weil alle Komponisten bereits gestorben waren, bevor es einen Staat Israel gegeben hat, und es sich um rein mitteleuropäische Musik handelt, wurde ignoriert.


Wie haben Orchester, Musiker, Künstler im Allgemeinen reagiert?

I Zu Beginn fragten mich viele, wie es meiner Familie in Israel geht; doch schon bald wurde nur mehr über Palästina geredet. Vor allem in England bin ich sehr vielen voreingenommenen Menschen begegnet. Das Problem besteht aber in ganz Europa: Ich habe das Gefühl, sie wollen die Fakten nicht hören, sie haben ihre Meinung dazu, und Schluss. Daher will ich niemanden mehr überzeugen, sondern meine Stimme dazu nutzen, um Licht und Hoffnung zu den Menschen zu bringen. Ich liebe meine musikalische Mission, denn ich sehe laufend, wie meine Kollegen und Kolleginnen weltweit durch das Politisieren – vor allem in den Social Media – einander fremd werden. Die sogenannten „sozialen“ Medien trennen die Leute voneinander. Die Musik bringt sie zusammen.

 


* Ein Residenzvertrag an der Wiener Staatsoper ist ein langfristiger Vertrag, der einem Künstler bzw. einer Künstlerin die Möglichkeit bietet, regelmäßig an der Staatsoper aufzutreten.

** Josef (Tommy) Lapid (1931 Novi Sad – 2008 Tel Aviv) war Vorsitzender der liberal-säkularen Schinui-Partei und Justizminister sowie Vizepremier Israels. Sein Vater und seine Großmutter wurden im KZ Mauthausen kurz vor dessen Befreiung ermordet. Er wanderte als 17-Jähriger nach Israel aus und leistete seinen Wehrdienst als Mechaniker. Danach studierte er Jura an der Universität Tel Aviv. 44 Jahre lang war er Journalist bei Maariv, die längste Zeit davon als Chefredakteur; danach fünf Jahre Generaldirektor von Kol Israel, dem staatlichen Rundfunk. Sein Sohn Yair Lapid wechselte wie sein Vater vom Journalismus in die Politik und gründete 2012 die Partei Jesch Atid.

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