Alfred Pritz: Wien ist wieder ein Zentrum der Psychotherapie“

1974

Seit zehn Jahren gibt es in Wien die Sigmund-Freud-Privatuniversität. Nun ist sie in ein neues Gebäude im Prater übersiedelt, und im Herbst soll neben den bestehenden Psychologie- und Psychotherapiestudien auch ein Medizinstudium starten. Mit Alfred Pritz, Rektor der Universität, sprach Alexia Weiss.

WINA: Mit der Sigmund-Freud-Privatuniversität wurde vor zehn Jahren eine Lücke im Ausbildungsangebot im Bereich Psychotherapie geschlossen. Wie wurde die Uni bisher angenommen?

Alfred Pritz: Das Echo war überwältigend. Wir haben das gar nicht erwartet. Im ersten Semester hatten wir 52 Studierende und zehn Jahre später 2.000. Ich glaube, mehr muss nicht gesagt werden. Und das, obwohl wir kaum Werbemittel haben. Das heißt, dass viele kommen, weil sie von bereits Studierenden gehört haben, dass es hier etwas Relevantes zu lernen gibt.

Welchen Mehrwert bietet die Sigmund-Freud-Uni gegenüber bisherigen Ausbildungen im Bereich Psychotherapie?

❙ In der Psychotherapie hat mich persönlich, ich war ja einer der Co-Autoren des österreichischen Psychotherapiegesetzes, die Frage beschäftigt, dass die Psychotherapie eigentlich ein akademisches Fach werden muss. Und es ist uns mit unserer Universität gelungen. Ein akademisches Fach heißt, dass es über praxeologische Theorien hinaus zu einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung kommt, verbunden mit praktischer Erfahrung. Da haben wir ja inzwischen eine riesige Psychotherapieambulanz in der Salztorgasse, wo wir derzeit ungefähr 1.600 Patienten betreuen, das ist auch im internationalen Vergleich eine große Ambulanz. Diese Verbindung von vertiefter Theorie und Praxis ist einzigartig.

Juristen haben es mit kristallisierten Beziehungstexten zu tun und Psychotherapeuten mit flüssigen.

Sie bieten aber auch ein Psychologiestudium an. Inwiefern unterscheidet sich dieses vom diesbezüglichen Angebot an öffentlichen österreichischen Universitäten?

❙ Durch die stärkere Praxisbetonung. Die Studierenden müssen ein Semester lang in einem psychologischen Feld ein Praktikum machen, und in der Theorie gibt es auch eine breitere Aufstellung, also nicht nur quantitative Psychologie, sondern eben auch qualitative Forschungsmethoden. Es ist ganz wesentlich, beides zu erlernen.

Die Ambulanz ist nicht nur ein Lernort, sondern bietet ja vor allem psychotherapeutische Versorgung. Wer kann diese Ambulanz aufsuchen?

❙ Jeder Mensch, der seelische Hilfe sucht.

Erfolgt die Abrechnung über die e-card?

❙ Nein, man muss schon etwas zahlen – je nach Einkommenssituation zwischen null und 30 Euro pro Sitzung. Für Flüchtlinge bieten wir die Behandlung beispielsweise gratis an. Wir haben überhaupt viele Patienten aus anderen Kulturkreisen, und das erleben wir als etwas sehr Positives.

Warum engagiert sich die Sigmund-Freud-Uni in der Flüchtlingsbetreuung?

❙ Warum sollte man das nicht tun? Die Notwendigkeit ist ja augenscheinlich. Ich kann es jetzt nur von mir persönlich sagen – aber das Engagement für Flüchtlinge geht schon zurück auf den Jugoslawienkrieg. Das war 1993 oder 1994, da waren meine Frau und ich so betroffen, was damals passiert ist, und haben uns überlegt, was wir beide tun können. Geld wollten wir nicht spenden, weil wir nicht wussten, ob das nicht wieder in Richtung Waffen geht. Und dann haben wir gesagt, eigentlich gibt es sehr viele Flüchtlinge, wir hatten damals 200.000 Flüchtlinge in Österreich, machen wir etwas für die Flüchtlinge. Und meine Frau hat dann ein Behandlungskonzept entworfen und das auch organisiert.

Woher kommen die Flüchtlinge, die Sie heute in der Ambulanz der Freud-Uni betreuen, und was sind ihre dringendsten Nöte?

❙ Sie haben ein Entwurzelungserlebnis, wie es oft furchtbarer nicht sein kann. Familien werden auseinandergerissen. Viele sind traumatisiert, wurden vergewaltigt, sind heimatlos, werden, wenn sie zurückgehen, verfolgt und mit dem Tod bedroht. Und das alles schlägt sich natürlich auf die Seele nieder. Man weiß nicht, wie es weitergeht, viele haben somatische Beschwerden, Depressionen, Angstzustände natürlich. Und all das sind klassische Symptome für eine psychotherapeutische Behandlung.
Und wenn Sie mich nach den Herkunftsländern fragen: Wir haben viele Patienten aus Afghanistan, Syrien, Tschetschenien, aber auch Afrika, wo es aktuell eine Menge bewaffneter Konflikte gibt.

Arbeiten Sie hier mit Übersetzern?

❙ Nein. Wir haben an unserer Uni ja auch englischsprachige Studienprogramme, und daher kommen unsere Studierenden aus der ganzen Welt. Wir haben derzeit Studierende aus 20 Ländern außerhalb der EU, und die bringen ihre Sprachen mit. Daher brauchen wir keine Übersetzer.

Wieviele Flüchtlinge betreuen Sie aktuell?

❙ Zwischen 250 und 300.

Auch in der Mehrheitsgesellschaft gibt es einen hohen Bedarf an psychischer Unterstützung. Massendiagnosen wie Depression oder Burnout sind medial ständig präsent. Was dann aber vielfach passiert, ist, dass der Hausarzt einfach nur Antidepressiva verschreibt. Ist das der richtige Weg, oder wie sollte das Gesundheitssystem hier idealerweise reagieren?

Meiner Ansicht nach sollten die praktischen Ärzte besser geschult werden und dann zu Spezialisten verweisen. Was viele nicht wissen: Antidepressiva sind sehr häufig wirkungslos.

Warum?

❙ Weil sie nicht das Problem betreffen. Ich sage das jetzt so vollmundig, weil es mittlerweile genügend Studien gibt, die das belegen. Der praktische Arzt hat halt keine anderen Mittel zur Verfügung, und die Behandlungszeit wird ihm auch nicht bezahlt oder er hat keine Schulung. Manche sind Naturtalente, aber dann gibt es immer noch das Problem der Honorierung. Hier muss etwas geschehen, aber es geschieht nichts.

Es bräuchte also eine Schulung der Hausärzte und ein stärkeres Bewusstsein, dass zum Spezialisten überwiesen wird.

❙ Ja. Wir planen hier an der SFU ja ein Medizinstudium, und da ist vorgesehen, dass es in jedem Semester auch eine psychologische Schulung gibt und eine psychotherapeutische zur Gesprächsführung, damit Ärzte lernen, dass der Mensch nicht nur aus Körper, sondern auch aus Seele besteht.

Mit welchen Spitälern arbeiten Sie hier zusammen?

❙ Mit der Vinzenz-Gruppe und den Barmherzigen Brüdern.

Wie schätzen Sie die psychotherapeutische Versorgung in Österreich ein?

❙ Im internationalen Vergleich sehr gut. Da sind wir im Spitzenfeld mit Deutschland, Schweden, Finnland; auch Italien hat ein sehr gutes Psychotherapieangebot, allerdings keine Kassenregelung. Das sind die Spitzenreiter in Europa, und da ist Österreich ganz vorne dabei.

Wien ist wieder zu einem Zentrum der Psychotherapie geworden.

Das heißt, es gibt keinen Verbesserungsbedarf?

❙ Doch. Wir haben eine schiefe Angebotssituation. Es gibt relativ viel in den Städten, aber wenn ich jetzt alleine Wien hernehme, da haben wir 500 Psychotherapeuten im neunten Bezirk und 25 im zweiundzwanzigsten. Aber im zweiundzwanzigsten leben weit über 100.000 Menschen. Das ist ein Dilemma. Am Land gibt es nach wie vor wenig. Aber es kommt immer auf den Blickwinkel an: In jedem österreichischen Bezirk gibt es mittelweile Psychotherapeuten.

Das eine ist das Angebot, das andere die Selbstverständlichkeit der Inanspruchnahme. Was fördert, was hemmt den Gang zum Psychotherapeuten?

❙ Das ist eine Bewusstseinsfrage, und da hat sich sehr viel geändert. Als ich vor fast 40 Jahren als Psychotherapeut begonnen habe, gab es gar kein Bewusstsein. Inzwischen ist Psychotherapie selbstverständlicher geworden, sie wird nicht mehr automatisch mit stationärer Psychiatrie in Verbindung gebracht, sondern auch als Lebenschance oder Lebenserweiterungschance gesehen. Und insoferne könnte man mit der Entwicklung zufrieden sein, und das bin ich auch. Wir haben von Österreich aus auch international viel bewirkt, und man kann durchaus sagen: Wien ist wieder zu einem Zentrum der Psychotherapie geworden. Und da hat die Sigmund-Freud-Uni sicher auch ihren Anteil. Dass die Uni nun mit März in ein neu errichtetes Gebäude im Prater übersiedelt ist, ist sicher auch ein Ausdruck dieser Entwicklung. Vor zehn Jahren hat ja kaum jemand geglaubt, dass wir eine Akkreditierung bekommen.

Man hat aus den US-Filmen das Bild im Kopf, dass es selbstverständlich ist, einen „Shrink“ zu haben. Ist es in Österreich auch schon so eine Selbstverständlichkeit geworden?

❙ Da muss man schon sagen: Das ist ein sehr verbreitetes Hollywood-Vorurteil. In Amerika haben nur die Begüterten einen Shrink, die anderen können sich das nicht leisten. In Österreich ist das anders, weil es uns gelungen ist, eine Kassenlösung herbeizuführen. Die Kassen geben derzeit 80 Millionen Euro im Jahr für Psychotherapie aus – und da ist die Rückerstattung, die Patienten bekommen, wenn Sie die von ihnen privat bezahlten Honorare einreichen, noch gar nicht inkludiert – das ist zwar nicht viel, wenn man es mit den Aufwendungen für Psychopharmaka vergleicht, aber es ist viel im Vergleich zu null.

Das eine ist die Leistbarkeit von Psychotherapie für den Patienten. Das andere sind die hohen Kosten für eine Psychotherapieausbildung. Auch an Ihrer Uni sind vergleichsweise hohe Studiengebühren zu bezahlen. Bieten Sie hier auch Stipendien an?

❙ International liegen wir im Mittelfeld, wir sind also keine teure Uni. Aber ja, für Österreich ist es verhältnismäßig teuer. Es gibt ein Unterstützungprogramm, das leistungsorientiert ist, das so genannte Michael-Häupl-Stipendium, das von privaten Unternehmen finanziert wird und dank dessen für vier bis fünf finanziell bedürftige Studierende die Gebühren übernommen werden können. Darüber hinaus bieten wir aber auch verschiedene Zahlungsmodelle an. Wenn man zumindest 500 Euro im Monat aufbringen kann, ist es möglich, den Rest langfristig, zum Beispiel über einen Studienkredit, zu finanzieren. Ich muss aber auch sagen: Als Privatuni bekommen wir keinen Euro Förderung, da es ein Finanzierungsverbot des Bundes für Privatuniversitäten gibt.

Sigmund Freud steht dafür, dass man Menschen durch Beziehung helfen und heilen kann, sagt Alfred Pritz, Rektor der Sigmund-Freud-Universität.

Die SFU ist eben übersiedelt, im Herbst soll, wenn alles nach Plan geht, auch ein Medizinstudium starten. Wie sehen die weiteren Pläne aus?

❙ Wir planen auch ein Jusstudium und eine Musikfakultät.
Die Jurisprudenz ist ja der Psychotherapie sehr nahe. Das ist auch eine hermeneutische, eine interpretative Wissenschaft. Ich sage immer: Juristen haben es mit kristallisierten Beziehungstexten zu tun und Psychotherapeuten mit flüssigen Beziehungstexten. Außerdem wollen wir auch im Jusstudium psychologische Lernerfahrungen einbringen. So wie Mediziner brauchen auch angehende Juristen ein Beziehungsrüstzeug. Was die Musik betrifft: Hier steckt die Idee dahinter, die SFU zur Volluniversität zu entwickeln.

Die Uni ist nach Sigmund Freud benannt. Wieviel Freud spiegelt sich denn heute im Unialltag wider?

❙ Sigmund Freud steht dafür, dass man Menschen durch Beziehung helfen und heilen kann, was nicht immer gelingt, aber oft. Freud war ein kühner Pionier, und dieser Pioniergeist erfüllt die ganze Uni, die Mitarbeiter; die Stimmung hier ist auf Kreativität, Aufbau und Weiterentwicklung ausgerichtet und die Studentenzufriedenheit ist dadurch sehr hoch – wir haben lediglich drei Prozent Studienabbrecher, das ist für eine Uni sehr gering.

Was von Sigmund Freuds Erkenntnissen ist denn heute noch in der psychotherapeutischen Arbeit relevant?

❙ Einerseits die Erfahrung, dass durch eine spezielle wertschätzende Beziehung Menschen von ihren seelischen Hürden entlastet werden, dass sie beginnen können, sich im Leben neu zu strukturieren. Dann die besondere Hermetik der psychotherapeutischen Situation, das geht auch auf Freud zurück. Das Konzept des Unbewussten. Begriffe wie Übertragung und Gegenübertragung spielen in der modernen Psychotherapie ebenfalls eine wichtige Rolle, auch wenn man es oft anders benennt.

Freud war Jude, auch wenn er selbst kein gutes Verhältnis zur Religion hatte. Dennoch gilt Psychotherapie doch noch immer ein bisschen als Bereich, in dem viele Juden tätig sind. Ist das in Wien auch so?

❙ Ich muss ehrlich sagen: Ich habe sie nicht gezählt. Ja, es gibt einige jüdische Therapeuten in Wien, aber auch nichtjüdische, muslimische. Es gibt immer wieder die Diskussion, ob die Psychotherapie eine jüdische Wissenschaft ist, aber ich glaube, Wissenschaft kann nicht jüdisch oder antisemitisch oder muslimisch sein. Wissenschaft ist Wissenschaft. Was nicht heißt, dass das Jüdische natürlich in der Geschichte der Psychotherapie eine Rolle gespielt hat, eine positive Rolle. Insgesamt ist Wissenschaft mit solchen Kategorien aber nicht erfassbar.

Gehen Psychotherapie und Religion überhaupt zusammen?

❙ Wir beschäftigen uns aktuell mit dieser Frage. Da gibt es heftige Kontroversen. Wir hatten hier an der Uni zum Beispiel eine Debatte, was machen wir mit muslimischen Therapeutinnen, die Hijab tragen – denn die haben wir. Was bedeutet das für die Therapiesituation? Dazu läuft derzeit eine Forschungsstudie, die allerdings noch nicht fertig ausgewertet ist. Die Ergebnisse werden in etwa einem halben Jahr vorliegen.

Alfred Pritz
geb. 1952 in St. Lorenzen bei Scheifling, Psychologie- und Pädagogikstudium an der Universität Salzburg, danach mehrere psychotherapeutische Ausbildungen (Carl Rogers, Gestalttherapie, Hypnose, Psychoanalyse). Seit 1977 als Psychotherapeut tätig, seit 1991 auch als Lehranalytiker. Auch berufspolitisch stark engagiert und Mitverhandler des österreichischen Psychotherapiegesetzes. 2005 begründete er mit drei Kollegen und Kolleginnen die weltweit erste Uni für Psychotherapie, die Sigmund-Freud-Privatuniversität, als deren Rektor er heute fungiert. Er ist zudem Präsident des World Council for Psychotherapy.
sfu.ac.at

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