Wina Editorial

1859

Wir schreiben den Monat Nissan, in dem wir mit dem Pessachfest Jahr für Jahr die Befreiung des jüdischen Volkes aus der ägyptischen Gefangenschaft feiern. Wir erinnern diese Befreiung nicht (nur) als einen Akt kollektiver Erlösung. Jeder Mann, jede Frau, jedes Kind erfuhr diese Befreiung der Gemeinschaft auch als individuelles Erlebnis. So feiern wir zu Pessach also auch unsere persönliche Freiheit, die heute genauso wenig selbstverständlich ist wie in jenen biblischen Zeiten.

Angesichts der Flüchtlingsströme aus den Kriegs- und Katastrophengebieten dieser Welt sollte uns diese Freiheit, die wir allzu oft für selbstverständlich erachten, nur lieb und teuer sein. Täglich sehen wir tausende Menschen in Schlauchbooten, auf verregneten Landstraßen, vor Stacheldrahtzäunen, die darum flehen, endlich frei zu sein – Menschen, die hoffen, eine Chance auf Menschenwürde zu bekommen.

„ Man muss sich die Freiheit nehmen. Sie wird einem nicht gegeben.“ Meret Oppenheim

Sie wollen das, was uns die Gunst unseres Geburts- oder Wohnortes beschert: ein Leben in Freiheit und Frieden. Eine Gunst, die uns verpflichtet, darüber nachzudenken, was sich Menschen wünschen, die in Gefangenschaft sind. Gefangen in Krieg, Elend und in ihrem Schicksal.

Was wünschte ich mir also, wäre ich mit meinem hungrigen und verzweifelten Sohn und einem Plastiksack in der Hand auf hoher See, in den Wäldern des Balkans oder auf einer breiten Autobahn Richtung Westen unterwegs? Was, wenn ich meiner Herkunft wegen meine Eltern, Freunde, mein bisheriges Leben hinter mir lassen müsste, um den Terror zu überleben? Was, wenn ich vor Hunger und Elend davonlaufen müsste?

Ich wünschte mir eine menschliche Stimme, die mich anspricht. Ein Ohr, das mich hört, Augen, die mich sehen. Ich würde mir das Recht auf ein menschenwürdiges Leben wünschen, die Möglichkeit, mein Leben selbst zu gestalten und mich entfalten zu können, eine Chance zu lernen, wie Freiheit sich anfühlt, mit welchen Rechten und Pflichten sie verbunden ist.

Diese Chance, frei zu leben, feiern wir zu Pessach. Diese Chance hat jeder Mensch verdient – in der alten oder in der neuen Heimat. In diesem Sinne wünsche ich uns allen ein friedliches, frohes und freies Pessachfest.

Julia Kaldori
Chefredaktion

Bild: © BULENT KILIC / AFP / picturedesk.com

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