Winterliches aus Tel Aviv

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Der Kulturkampf tobt wieder einmal. Es ist aber gar nicht so klar, wo genau die Fronten verlaufen. Von Gisela Dachs

Der Umgang mit dem Wetter ist, wie so vieles andere in diesem Land, Ansichtssache und folglich ziemlich unterschiedlich. Fangen wir an mit den europäischen Touristen, die jetzt nach Tel Aviv kommen, um die „warmen“ Temperaturen genießen. Sie sind zu erkennen an ihrer ausgesprochen sommerlichen Kleidung und gehen manchmal sogar baden. Die Hiesigen hingegen – besonders die weiblichen – schlüpfen zu dieser Jahreszeit in ihre neuen modischen Winterstiefel und pelzbestückten Jacken. Wieder andere sind in „Denial“. Solche etwa, die sich aus Prinzip noch nie einen Regenschirm angeschafft haben, weil ein Schauer doch sowieso nie lange andauern würde. Sie warten im gegebenen Fall einfach ab, bis der Regen wieder aufhört oder rennen ganz schnell von einem Ziel zum anderen.

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Was die Insider außerdem noch von den Außenseitern trennt, ist eine Art innerliches Thermometer, in dem die Jahresdurchschnittstemperaturen gefühlsmäßig und abrufbereit abgespeichert sind. Wie könnten sie sonst die Wetteransagen im Radio verstehen, die oft keine genauen Angaben machen, sondern viel lieber kryptisch verkünden: Heute sind die Temperaturen höher – oder niedriger – als zu dieser Saison üblich.

Jahreszeiten aber haben in diesen Tagen auch eine politische Bedeutung

Vom arabischen Frühling über den israelischen Sommer bis zum islamischen Winter. „Zehn Monate nach dem Beginn des großen arabischen Aufstands ist klar, Allah hat gewonnen“, schrieb Ari Shavit in „Haaretz“ und fügte hinzu: „Aber Allah ist nicht allein, der mächtige Gott Israels ist auch zurückgekehrt.“ Das war noch vor den Unruhen in Beit Shemesh. Dort hatten ultraorthodoxe Männer erst die kleine (religiöse) Na’ama auf dem Schulweg drangsaliert, weil ihnen ihre Kleidung nicht passte. Als dann ein Fernsehteam auch noch über ein (seit Jahren existierendes) Schild berichten wollte, das Frauen und Männer auffordert, getrennte Gehwege zu benutzen, und daran gehindert wurde, bekam der lokale Streit nationalen Symbolcharakter.

Die Temperatur des Kulturkampfes, mit dem sich die Medien mittlerweile seit Wochen befassen, wird nun so empfunden wie das Wetter. Alles eine Frage des Standpunkts. Hillary Clinton, die gelesen hat, dass Religiöse in der Armee nunmehr auch Anstoß an singenden Soldatinnen nehmen, zog den Vergleich mit dem Iran. Ari Shavit warnt vor solchen Gleichsetzungen, denn die Israelis seien schließlich BürgerInnen einer liberalen Demokratie, die immer noch ihre Rechte und Freiheiten respektiere. Aber beide Phänomene hätten dennoch eines gemeinsam: das Fehlen eines Säkularisierungsprozesses, der Religion und Staat voneinander trenne. Er wirft deshalb der „so genannten nationalistischen Regierung“ vor, in Wahrheit nämlich Israel nur zu schwächen und die Grundfeste seiner Existenz zu untergraben.

Glaubt man einer Umfrage der Universität Tel Aviv im Rahmen des „Peace Index“, so machen sich ziemlich viele Israelis Sorgen angesichts der jüngsten Entwicklung. 64,5 Prozent der Befragten sehen darin eine religiöse Radikalisierung im Land. Knapp die Hälfte hält die Rolle, die die Religion in Regierungsfragen einnimmt, für zu stark. Und 59 Prozent halten es im Prinzip nicht für möglich, dass eine Regierung mit einer Mehrheit an religiösen Parteien dazu fähig sei, demokratisch zu regieren.

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Netanjahu – Feuerwehrmann und Brandstifter

So spielt Benjamin Netanjahu, der entsetzt jegliche Form von Diskriminierung gegen Frauen zurückweist, mit seiner rechts-religiösen-ultraorthodoxen Regierung zugleich Feuerwehrmann und Brandstifter. Auf diese Weise, klagt die prominente Publizistin Avirama Golan, würde die Macht extremistischer Rabbiner nur gestärkt, indem sie hohe Positionen im Bildungswesen oder anderen Institutionen bekommen hätten. Es sei leichter, ein gesichtsloses Kollektiv – die Haredim – zu hassen, als eine politische Erklärung zu wagen, die die Schwächung der israelischen Demokratie anprangere.

Schließlich aber gibt es auch jene Stimmen, die alle Aufregung nur für einen zu vernachlässigenden, vorübergehenden Schauer halten. Caroline Glick, ultrarechte Kommentatorin der „Jerusalem Post“ und äußerst beliebt bei der Siedlerfrauenbewegung „Women in Green“ , lobt die Kohäsion der Gesellschaft, die doch heute stärker sei als je – mit niedrigen Arbeitslosenraten in Zeiten globaler Rezession, einer wachsenden Wirtschaft und der höchsten Geburtenrate in der westlichen Welt. Immer mehr säkulare Israelis würden sich der Religion zuwenden, und umgekehrt würden sich immer mehr Ultraorthodoxe – durch notwendig gewordenes Arbeiten und Armeedienst – in der säkularen Welt integrieren. „ Wir haben mehr, was uns vereint, als was uns trennt“, schreibt sie. Dass sie all die Proteste nicht mag, die Israel seit dem Sommer aufwirbeln, hat aber noch einen anderen Grund: Sie „folgen in den Fußstapfen der Proteste von 1989 und 1999, die Netanjahus erste Regierung niedergebracht haben“.

Vielleicht hat sie ja Recht mit dem Anfang vom Ende der Regierung Netanjahu. Aber sicher ist nur: Man muss sich wärmer anziehen.

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