„Wir brauchen Ordnung“ – Ulrike Lunacek (Die Grünen)

Bei den EU-Wahlen 2014 führte Ulrike Lunacek die Grünen zu ihrem größten Wahlerfolg. Im WINA-Gespräch erklärt sie, warum die FPÖ nicht in die Regierung soll und wie sie über die Zwei-Staaten-Lösung denkt.

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WINA: Vor drei Jahren führten Sie die Grünen als Spitzenkandidatin zum bisher größten Erfolg in der Parteigeschichte: 14,5 Prozent bei den EU-Wahlen. Bei den Nationalratswahlen drohen Ihnen schwere Verluste. Warum tun Sie sich das an?
Ulrike Lunacek: Als Eva Glawischnig im Mai zurückgetreten ist, wurde ich gefragt, ob ich einspringe. Die Umfragen sahen für die Grünen schon damals nicht gut aus. Es gab zwei Gründe, warum ich dennoch zugesagt habe. Erstens liegen mir die österreichischen Grünen am Herzen. Wir sind auch für die europäischen Grünen eine wichtige Partei, und ich will dazu beitragen, dass es besser wird. Und zweitens will ich dazu beitragen, dass es keine Regierungsbeteiligung der FPÖ gibt. Das ist eine Partei, die zu viele unklare Positionen zum Nationalsozialismus hat.

Sollten Sie massiv verlieren, bleiben Sie im Europäischen Parlament?
| Nein, am 9. November ist die Angelobung zum Nationalrat, und dort werde ich dann sein.

»… keine Regierungsbeteiligung der FPÖ gibt. Das ist eine Partei, die zu viele unklare Positionen zum Nationalsozialismus hat.«

Foto: Daniel Shaked

Sie prangern immer wieder Rechtspopulismus an. Vielleicht bräuchten die Grünen etwas mehr Linkspopulismus, oder zumindest mehr Emotionalisierung.
| Man muss bei Populismus unterscheiden. Zuspitzung als Stilmittel versuchen auch wir. Problematisch ist der Populismus, der Ängste instrumentalisiert und Sündenböcke sucht, anstatt Probleme zu finden. Diesen Populismus lehnen wir Grüne dezidiert ab – egal von welcher Seite.

Eines der emotionalsten Themen dieses Wahlkampfs ist die Migrationsfrage. Die Grünen lehnen Grenzkontrollen ab und protestieren gegen unzählige Abschiebungen von Menschen mit negativem Asylbescheid. Vor dem Hintergrund, dass rund eine Milliarde Menschen nach Europa wollen: Wie regelt oder reguliert man die Migration?
| In aller Kürze: Wir müssen die Entwicklungshilfe verstärken, viel mehr Geld bereitstellen. Wenn wir von Migration sprechen, sind das oft Menschen, die ihre Länder, ihre Dörfer verlassen, weil sie dort kein wirtschaftliches Auskommen mehr haben. Das hat z. B. in Westafrika mit dem Export von hochsubventionierten Lebensmitteln aus der EU zu tun, die dort die Märkte kaputt machen. Oder mit Fischereiabkommen, aufgrund derer die Fischvorräte vor Westafrika leergefischt werden. Es braucht also faire Handelsbeziehungen. Außerdem müssen wir Fluchtursachen bekämpfen. Dazu gehört: keine Waffenlieferungen in kriegsführende Länder. Österreich hat im vorigen Jahr 30.000 Kleinwaffen nach Saudi-Arabien geliefert. Saudi-Arabien führt Krieg im Jemen. Das produziert Flüchtlinge.

»Um Asyl soll auch im Ausland angesucht werden können. 2015 war Chaos. Wir brauchen Ordnung.«

Erinnern wir uns an den Sommer 2015, als Hunderttausende Flüchtlinge vor den Grenzen Österreichs warteten. Wie würden die Grünen bei der nächsten Flüchtlingskrise reagieren?
| Um das zu vermeiden, wäre eine Maßnahme das Botschaftsasyl. Um Asyl soll auch im Ausland angesucht werden können. 2015 war Chaos. Wir brauchen Ordnung.

Wenn ein Antrag in Österreich abgelehnt wird?
| Dann kann es Rückführungen geben. Aber nur in sichere Länder, in denen den Menschen keine Haft, Folter oder Tod droht. Afghanistan ist derzeit kein sicheres Land.

Was geschieht mit einem Afghanen, dessen Asylansuchen abgelehnt wird?
| Subsidiärer Schutz, also eine Möglichkeit, hier zu bleiben. Dazu kommt aber noch ein Punkt: Solidarität unter den EU-Mitgliedern. Es weigern sich zu viele, Flüchtlinge aufzunehmen.

Also finanzieller Druck auf Polen, Ungarn und andere Verweigerer?
| Ja, natürlich. Sie verwenden die EU als Bankomat, aber Solidarität in der Asylfrage wird von den Regierungen verweigert.

Zurück zum Afghanen, der weder abgeschoben noch in ein anderes EU-Land umgesiedelt wird.
| In der Integration mehr machen, zum Beispiel flächendeckend Deutschkurse. Und in diesen Kursen sollte vermittelt werden, was wir uns an Rechten, an Freiheiten erkämpft haben.

Es gibt doch Werteschulungen.
| Ja, da sind Dinge dabei, die in Ordnung sind. Gescheiter wäre es, wenn das im Rahmen der Deutschkurse passiert. Es gibt viele Organisationen, die einen Deutschkurs mit Werteschulung anbieten wollen, aber über mangelnde Finanzierung klagen.

Was fehlt noch bei der Integration?
| Beschäftigung. Wenn junge Männer nicht arbeiten dürfen, nur im Park sitzen, dann kommen manche auf falsche Gedanken.

»Es muss klargemacht werden, wie Kindergarten und Schulen zu führen sind und dass jede Form der Hetze gegen Menschen anderer Religionen oder anderen Geschlechts keinen Platz hat in Österreich.«

Progressive und Konservative sind sich in einer Frage einig: Man hat bei islamistischen Umtrieben in Österreich zu lange weggeschaut. Auch die Grünen?
| Ich kann Ängste verstehen. Wir wissen heute, wie manche Islamisten agieren, dass sie z. B. Antisemitismus und Frauenverachtung verbreiten. Alle Vereine gehören kontrolliert. Ja, das gab es zu wenig. Es muss klargemacht werden, wie Kindergarten und Schulen zu führen sind und dass jede Form der Hetze gegen Menschen anderer Religionen oder anderen Geschlechts keinen Platz hat in Österreich. Es braucht mehr Kontrolle, und auch die muslimische Gemeinschaft  selbst muss mehr tun. Jeder Verein sollte ein Bekenntnis zu den Werten der Aufklärung abgeben.

Und wenn diese Deklaration verweigert wird?
| Vereine müssen sich der Verfassung unterordnen, sonst sind die aufzulösen. Bei Personen ist das schwieriger. Hier kommt die Justiz ins Spiel, etwa bei Hassreden.

Wie halten Sie es mit Gott?
| Ich bin getauft, im Alter von 20 Jahren aber aus der Kirche ausgetreten. Ich trete für Religionsfreiheit ein, glaube selbst aber an keinen Gott oder eine Göttin.

Wie halten Sie es mit Karl Marx?
| Er hat interessante Theorien aufgestellt, die auch heute durchaus lesenswert sind, insbesondere seine Analyse, wie Kapitalismus funktioniert. Aber ich bin keine, die diesen Punkten eins zu eins anhängt.

Für Richterinnen und Polizistinnen gilt ein Kopftuchverbot. Stört Sie das?
| Ich teile es insofern, als ich grundsätzlich für einen säkularen Staat bin. Es gibt 14 anerkannte Religionsgemeinschaften und sehr viele Menschen, die keiner dieser 14 angehören. Ich hielte es für sinnvoll, wenn es keine religiösen Symbole in öffentlichen Einrichtungen gibt.

»Mein Zugang ist: Entweder es gibt religiöse Symbole für alle – oder keine. Das wäre mir am liebsten.«

Foto: Daniel Shaked

Kein Kruzifix in Schulen?
| Wenn die Mehrheit in einer Schulklasse das will, soll es ein Symbol oder mehrere Symbole geben.

Konsistent ist das nicht: Kopftuch nein, aber das Kruzifix bleibt.
| Mein Zugang ist: Entweder es gibt religiöse Symbole für alle – oder keine. Das wäre mir am liebsten.

Garantieren Sie das Recht auf Brit Mila, also auf religiöse Beschneidungen?
| Hier geht es vorrangig um das Kindeswohl, und mir sagen Fachleute, dass dieses nicht gefährdet ist. Damit ist das den Glaubensgemeinschaften überlassen.

Tierschutz ist Teil der Grünen-DNA. Grüne setzten sich auch für ein Verbot des Schächtens, der koscheren Schlachtung ein. Wie stehen Sie dazu?
| Ja, das ist für uns nicht einfach im Spannungsfeld zwischen Religionsfreiheit und Tierschutz. Die Frage ist, ob nicht vor dem Schächtschnitt eine Betäubung gesetzt werden kann. Aber ich kann auch mit der derzeitigen Regelung gut leben (Betäubung unmittelbar nach dem Schnitt, Anm.).

Zur Außenpolitik: Botschaften befinden sich in Hauptstädten. Österreichs Vertretung in Israel befindet sich aber in Tel Aviv. Was halten Sie von einer Verlegung in die Hauptstadt Jerusalem?
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Ich habe keine festgefahrene Meinung dazu. In Tel Aviv finden sehr viele staatliche Veranstaltungen statt, daher macht es auch Sinn, die Botschaft dort zu behalten.

Sie befürworten die Kennzeichnungspflicht für Waren aus der Westbank? Warum?
| Es ist eine reine Herkunftsbezeichnung, die die EU-Kommission und die Außenminister gefordert hatten. Produkte, die in den besetzten palästinensischen Gebieten produziert werden, soll den Namen der Siedlungen tragen und nicht „Made in Israel“. Eine breite Mehrheit im EU-Parlament hat dafür gestimmt. Als Grüne will ich solche Herkunftsbezeichnungen für jedes Produkt. Der Konsument soll wissen, wo etwas herkommt.

 Bei Israel wird mit zweierlei Maß gemessen. Für Waren aus dem türkischen Teil Zyperns oder der Westsahara gibt es keine solche Bezeichnungspflicht.
| Dort wäre es auch sehr sinnvoll. Bei Israel geht es auch um die Zwei-Staaten-Lösung.

Jeder in Europa ist für eine Zwei-Staaten-Lösung, die EU übt aber stets nur Druck auf Israel aus. In den vergangenen 70 Jahren gab es mehrere Angebote Israels für die Gründung eines palästinensischen Staates. Jedes Angebot wurde abgelehnt. Ist es nicht an der Zeit, Druck auf die Palästinenser auszuüben, wo Terror verherrlicht und finanziert wird?
| Es gibt viele Gründe dafür, dass es keinen Friedensvertrag gibt. Siedlungsbau ist einer davon, Gewalt von Seiten der Palästinenser ein anderer. Es braucht eine neue Friedensinitiative.

Eine Seite bietet Gespräche an, die andere verweigert sie.
| Ja, aber es gehören zwei dazu.

Wenn sich zwei streiten, meint man, die Wahrheit müsse in der Mitte liegen. Liegt die Wahrheit wirklich in der Mitte? Die eine Seite erhebt Anspruch auf Gebiete, die andere Seite auf die Vernichtung oder zumindest Vertreibung der Juden aus dem Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordan.
| Die Anerkennung Israels ist natürlich eine Friedensbedingung. Vielleicht müssen Frauen ran.

Ein letzter Versuch: Seit 18 Jahren wurde keine neue israelische Siedlung in der Westbank errichtet, es ging immer nur um Wohnungsbau in den bestehenden Siedlungen. Heuer wurde erstmals seit 1990 eine Neuerrichtung genehmigt. Der Eindruck, den Politik und Medien in Europa vermitteln ist ein anderer: Israel greife nach immer mehr Land. Das ist schlicht unwahr.
| Ich habe das nicht im Detail verfolgt. Mir haben Israelis und Palästinenser immer wieder berichtet, dass auch neue Gebiete erschlossen wurden. Aber Sie haben es selbst gesagt: Heuer gab es einen Beschluss. Ich stehe auf dem Standpunkt, dass das falsch ist, weil das keine Lösung ermöglicht. Palästinenser kommen schwer von einem Ort zum anderen, und für jüdische Siedler ist es auch nicht gut, wenn sie in abgeschotteten Siedlungen leben. Es muss andere Lösungen geben.

»Ich weiß aber nicht, wie viele Jüdinnen und Juden nach Österreich kommen wollten, wenn die FPÖ wieder in der Regierung ist.«

Zurück nach Österreich. Im Jahr 1938 gab es hier mehr als 200.000 Juden. 1946 waren es 1.750. Durch Zuwanderung wuchs die Zahl der Juden in Österreich auf heute geschätzte 12.000. 2002 stellten die Grünen im Parlament einen interessanten Antrag: Die IKG solle unterstützt werden und jüdische Zuwanderer nach Österreich einladen. Der Antrag fand keine Mehrheit. Können Sie sich einen neuen Anlauf vorstellen?
| Ich fand es immer verstörend, wie wenig gleich nach der Nazizeit getan wurde, um Vertriebene nach Österreich zurückzuholen. Konkret zu Ihrer Frage: Warum nicht? Ich lebe selbst im  zweiten Bezirk, wo ich in den 1960er-Jahren auch zur Schule gegangen bin. Damals war null an jüdischem Leben zu sehen. Ich habe auch nichts darüber gelernt. Erst in den vergangenen 20 Jahren ist das zum Glück wieder sehr lebendig geworden – das ist eine Bereicherung Wiens. Ich bin durchaus offen für jüdischen Zuzug. Ich weiß aber nicht, wie viele Jüdinnen und Juden nach Österreich kommen wollten, wenn die FPÖ wieder in der Regierung ist.

Nach dem 15. Oktober könnten die Grünen in Koalitionsgespräche miteinbezogen werden. Würden Sie lieber mit Christian Kern oder Sebastian Kurz auf derselben Regierungsbank sitzen?
| Aufgrund der Themen gibt es mit der SPÖ viel mehr Überschneidungen als mit der neuen Kurz-ÖVP. Eine Zweierkoalition wird sich mit einer der kleineren Parteien, uns oder den NEOS, nicht ausgehen.

Eine Zusammenarbeit mit Peter Pilz schließen Sie aus?
| Nein, aber die Liste Pilz muss erst einmal reinkommen. Die Politik, die die Liste Kurz jetzt macht, ist mit grün nicht kompatibel – wenn sogar Herr Strache sich freut, dass die ÖVP alle seine Forderungen übernommen hat. Wenn die ÖVP entscheidet, den Kurz-Kurs zu verlassen und eine schwarz-grüne Politik machen will – so wie in einigen Bundesländern – kann das möglich sein. Und auf der anderen Seite könnte Herr Doskozil die SPÖ übernehmen und Rot-Blau oder Blau-Rot machen, dann sieht die Situation wieder anders aus – und man braucht keinen dritten Partner.

Weitere Interviews rund um die Nationalratswahl 2017:

„Ich lass’ mich überraschen!“ – Christian Kern (SPÖ)

 

„Dann regiert der Nonsens“ – Matthias Strolz (NEOS)

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