„Wir haben noch einige harte Jahre vor uns“

Michael Blume, Antisemitismusbeauftragter der Landesregierung Baden-Württemberg, nahm Mitte Juni am Ersten Nationalen Forum gegen Antisemitismus in Wien teil und besuchte dabei auch die IKG. WINA sprach mit ihm über seinen Zugang, das Problem Antisemitismus in den Griff zu bekommen, aber auch darüber, wie es ist, auch von jüdischer Seite attackiert zu werden.

1988
MICHAEL BLUME, geb. 1976 in Filderstadt, Deutschland, ist Religions- und Politikwissenschaftler und seit 2018 Antisemitismusbeauftragter der Landesregierung von Baden-Württemberg. Er ist zudem Autor zahlreicher Bücher, darunter Warum der Antisemitismus uns alle bedroht (2019). In seinem Podcast Verschwörungsfragen klärt er über Antisemitismus und Verschwörungsmythen auf. © @ die arge lola / Kai Loges + Andreas Langen

WINA: 2021 wurden in Deutschland 3.028 antisemitische Straftaten erfasst. Das American Jewish Committee (AJC) ließ daraufhin in einer Studie das Institut für Demographie Allensbach die Haltungen der Bevölkerung zu Antisemitismus erheben. Das Ergebnis: Antisemitismus ist auch in der Mitte der Gesellschaft verankert, deutliche Problemgruppen sind demnach AfD-Anhänger sowie religiöse Muslime. Warum überraschten sie die Ergebnisse der AJC-Studie nicht?
Michael Blume: Ja, tatsächlich kann ich das so bestätigen. Ich habe mich auch immer wieder dagegen gewehrt, dass es geheißen hat, der Antisemitismus sei in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Tatsächlich war er nie wirklich weg. Und ich spreche sogar von einem libertären Antisemitismus, zum Beispiel bei Leuten wie Tilman Knechtel, die sich selber als weder rechts noch links empfinden, aber sagen, der ganze Staat, die ganze Demokratie, die Republik ist eine vermeintlich zionistisch dominierte Verschwörung. Der muslimisch geprägte Antisemitismus wird bisher tatsächlich noch unterschätzt. Ich will aber auch darauf hinweisen, dass das nicht nur ein religiöser Antisemitismus ist. Der Antisemitismus mit muslimischem Hintergrund ist genauso vielschichtig wie der in der christlichen Welt.

Wie sieht die Situation in Baden-Württemberg aus?
I Wir haben einen Rückgang der allgemeinen Kriminalität, aber einen Anstieg der sogenannten Hassverbrechen. Das heißt, wir haben einen starken Anstieg im Bereich Antisemitismus. Ich muss aber sagen: Es steigt nicht die Zahl der Antisemiten in Baden-Württemberg an. Das ist die gute Nachricht. Die ganze Bildungsarbeit hat eine Wirkung. Aber die Leute, die zu Antisemitismus, Rassismus, Sexismus tendieren, radikalisieren sich digital. Und deswegen muss ich leider auch für die nächsten Jahre sagen, wir müssen mit Gewalt rechnen. Also leider kann ich keine Entwarnung geben. Wir haben noch einige harte Jahre vor uns.

In Zahlen gegossen, wie schaut da die Zunahme in BadenWürttemberg aus?
I Wir hatten in den letzten Jahren immer so eine Zunahme der antisemitischen Straftaten zwischen zehn und 25 Prozent. Etwa ein Zehntel der antisemitischen Meldefälle in ganz Deutschland entfällt auf Baden-Württemberg (11,1 Millionen Einwohner, Anm.). Das ist etwas über dem Schnitt, kann aber natürlich auch damit zusammenhängen, dass wir sehr lebendige jüdische Gemeinden haben und es auch gelungen ist, zum Beispiel durch die Einsetzung von Polizeirabbinern, die Meldungen zu erhöhen. Bei uns haben die jüdischen Gemeinden jetzt direkte Drähte zur Polizei, es werden Fälle zur Anzeige gebracht, wie jetzt gerade wieder ein antisemitischer Aufmarsch mit der sogenannten Schwarzen Sonne vor der Synagoge (ein NSSymbol, Anm.) in Ulm. Das bedeutet natürlich auch, dass mehr gemeldet wird. Und jetzt kommt es darauf an, dass dann auch mehr aufgeklärt wird.

Sie haben im Juli 2019 Ihren ersten Bericht als Beauftragter der Landesregierung Baden-Württemberg gegen Antisemitismus vorgelegt. Darin geben sie auf 30 Seiten auch konkrete Handlungsanleitungen, die Ähnlichkeit mit dem haben, was die österreichische Bundesregierung in ihrer Nationalen Strategie gegen Antisemitismus vorgelegt hat. Sie empfehlen beispielsweise ein noch besseres Monitoring. Welche Ihrer Empfehlungen wurden bis heute umgesetzt?
I Wir haben eine Vielzahl von Empfehlungen, wie die Polizeirabbiner, umsetzen können und auch eine Meldestelle aufgebaut. Was noch nicht so gut klappt, ist die Vernetzung. Meines Erachtens sollten die ganzen deutschsprachigen Länder gemeinsame Kriterien erarbeiten. Wien liegt von Stuttgart aus zehn Kilometer näher als Berlin, und ich hätte gerne, dass BadenWürttemberg ein bisschen ein verbindendes Element darstellt. Wenn das nicht klappt, dann wird Deutschland mit der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) einen eigenen Weg gehen.

In Wien wurde eine solche Meldestelle bereits aufgebaut. Sollte Ihr Wien-Besuch hier auch zu einer Vernetzung beitragen?
I Ganz genau, das hat auch bereits begonnen. Es ist ja so, dass es im süddeutschen Raum eine sehr föderale Tradition gibt. Wir sind stark beeinflusst durch die Schweiz und Österreich, das sehen Sie zum Beispiel in den süddeutschen Ratsverfassungen. Aber gleichzeitig wissen wir natürlich auch, dass man sich abstimmen und gemeinsame Kriterien finden muss. Es wäre mein Traum, wenn wir in allen deutschsprachigen Ländern eine gemeinsame Datenbasis haben könnten.

Welche Ihrer Empfehlungen sind noch nicht umgesetzt?
I Am meisten Arbeit sehe ich noch im Bereich von Bildung. Wir hatten in Deutschland die sogenannte Holocaust-Pädagogik. Viele junge Leute lernen nur tote Juden kennen, aber sie haben noch kaum Kenntnisse beispielsweise von jüdischen Festen. Mitleid ist doch kein Respekt. Ich wünsche mir sehr, dass die nächste Generation das Judentum auch als lebendiges Judentum kennenlernt.

„Ganz konkret wünsche ich mir, dass es ein Medienzentrum gibt für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus.“
Michael Blume

 

Wie viele Juden und Jüdinnen leben in Baden-Württemberg?
I Wir haben in den jüdischen Gemeinden knapp 10.000 Mitglieder, und man schätzt noch mal einige Tausend, die nicht Mitglieder sind. Es werden aber mehr. Zum einen haben wir auch wieder kinderreiche, häufig religiöse Familien. Und wir haben jetzt gerade auch einen starken Zustrom von Jüdinnen und Juden aus der Ukraine.

Wie schwierig ist es, im Kampf gegen Antisemitismus etwas konkret zu bewegen?
I Jeder sieht gerne den Antisemitismus der anderen. Die Rechten verweisen nach links, die Linken verweisen nach rechts, die Religiösen auf die Säkularen und die Säkularen auf die Religiösen. Meine häufigste Begrüßung lautet eigentlich „Herr Dr. Blume, Ihre Arbeit ist super wichtig, aber bitte machen Sie sie woanders.“ Was gut ist, es gibt ein breites öffentliches Interesse. Auch viele Politikerinnen und Politiker nutzen die Chance der Hintergrundgespräche. Ein großer Nachteil ist der Hass, auch gegen meine Familie. Ich halte die Funktion des Antisemitismusbeauftragten für gut, weil es dem Thema ein Gesicht gibt. Aber man muss sich klar machen, wenn man dann auch digital sichtbar wird, bedeutet das Einschnitte bis ins private Leben hinein. Man wird erkannt, man wird beschimpft, bedroht.

Was würden Sie sich wünschen, um schlagkräftiger wirken zu können?
I Wenn wir Antisemitismus bekämpfen wollen, brauchen wir Netzwerke. Ganz konkret wünsche ich mir, dass es ein Medienzentrum gibt für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus. Wir haben ein sehr gutes jüdisches Forum in Berlin, und ich würde mir ein solches Medienzentrum in Wien wünschen, möglicherweise gemeinsam finanziert, beispielsweise von den südlichen Bundesländern Deutschlands, der Schweiz und Österreich. Ich halte beispielsweise die ORF-Dokumentation Verschwörungswelten für im deutschsprachigen Raum führend, aber sie ist leider nicht mehr in der Mediathek erhältlich und wurde in Deutschland zu wenig wahrgenommen. Es ist schade, wenn jedes Land immer wieder für sich das Rad neu erfindet, obwohl wir schon sehr gute Inhalte haben.

Warum schwebt Ihnen gerade in Wien ein Medienzentrum vor, das dann in den deutschsprachigen Raum ausstrahlt, und nicht eines in Bayern oder bei Ihnen in Baden-Württemberg?
I Zum einen hat Wien eine ganz reiche deutsch-jüdische Geschichte. Und dann habe ich den Eindruck, dass durch eine gewisse Multikulturalität in Wien auch eine Sensibilität für Medien und Medienarbeit da ist. Das Jüdische Museum in Wien hat mich mit dem Fahrrad von Theodor Herzl beeindruckt. Das ist genau die Art, die wir brauchen, frisch erzählen, mutig erzählen, sich klar machen, dass man nicht nur ein Milieu ansprechen darf. Und ganz ehrlich gesagt glaube ich, da können auch wir Baden-Württemberger von Wien lernen.

Sie gerieten Ende 2021 selbst in die Kritik, als das Simon Wiesenthal Center Ihnen vorwarf, antisemitisch bzw. antiisraelisch agierende Akteure und Positionen zu unterstützen, dabei ging es um Social Media. Kritisiert wurden aber auch Partnerschaften baden-württembergischer Städte mit iranischen Städten. Die jüdischen Gemeinden im Land, aber auch der Zentralrat der Juden in Deutschland stellten sich hinter Sie. Können Sie die Vorwürfe des Wiesenthal Centers nachvollziehen?
I Nein. Ich war ja der erste Antisemitismusbeauftragte in Deutschland. Kurz nach Amtsantritt habe ich einen ersten Troll auch von israelischer Seite bekommen, der meine Familie und mich sehr rechtsextrem beschimpft hat und von vornherein Forderungen stellte, die auch dem deutschen Recht widersprechen. Ich sollte beispielsweise für die Kündigung von Konten sorgen bei einer Bank im Sparkassenverband. Das ist bei uns rechtlich gar nicht möglich. Oder in die kommunale Selbstverwaltung eingreifen und einem Gemeinderat vorschreiben, mit wem er eine Städtepartnerschaft hat. Ich habe in aller Ruhe erklärt, dass ich mein Amt im Rahmen des Rechtsstaates ausübe und Städtepartnerschaften bei uns von Städten entschieden werden. Es gibt leider durchaus auch auf amerikanischer und israelischer Seite rechte Positionen, die unser Prinzip der Gewaltenteilung nicht respektieren. Und da gehört dann auch Zivilcourage dazu, sich nicht unter Druck setzen zu lassen. Ich werde immer für die Demokratie eintreten, und das bedeutet auch, dass ich eine Grenze bei Leuten ziehe, die Donald Trump verherrlichen.

Wie schwierig ist es, das Bemühen um Dialog mit verschiedensten Gruppierungen und den Kampf gegen Antisemitismus zu vereinen?
I Genau das war tatsächlich auch ein Wunsch der jüdischen Gemeinden in Baden und Württemberg, als sie mich vorgeschlagen haben, weil ich eben auch Bücher über den Islam geschrieben habe, mit einer Muslimin verheiratet bin, dass ich also auch an die Stellen gehe, wo es weh tut, zum Beispiel in Moscheegemeinden. Dass ich nicht nur mit den Leuten rede, die ohnehin über alle Zweifel erhaben sind. Wenn man dieses Amt wirklich ernst nimmt, bedeutet das, dass man auch Risiken eingehen muss. Man muss auch bereit sein, eine Meile extra zu gehen und sich auch beschimpfen zu lassen.

„Wenn man dieses Amt wirklich ernst nimmt, bedeutet das, dass man auch Risiken eingehen muss. Man muss auch bereit sein, eine Meile extra zu gehen und sich auch beschimpfen zu lassen.“
Michael Blume

 

In Ihrem Buch Warum der Antisemitismus uns alle bedroht legten Sie 2019 unter anderem dar, dass jede neue Kommunikationsform – vom Buchdruck bis zum Fernsehen – Antisemitismus beförderte. Nun sind wir weltweit mit antisemitischen Inhalten im Internet und auf Social Media konfrontiert. Sie selbst betreiben den Podcast Verschwörungsfragen. Darin behandeln Sie unterschiedlichste Facetten des Themas Antisemitismus. Warum haben Sie für den Podcast diesen Titel gewählt?
I
Mir geht es praktisch nicht nur darum zu erklären, was Antisemitismus ist, sondern warum generell Verschwörungsmythen immer wieder in Antisemitismus münden. Ich möchte, dass die Menschen verstehen, dass Verschwörungsmythen generell eine Bedrohung sind, da sie Menschen zu falschen Entscheidungen führen, beispielsweise sich nicht impfen zu lassen. Und dass sie den Antisemitismus auch, aber nicht nur, den jüdischen Gemeinden zuliebe bekämpfen sollen. Wer Verschwörungsmythen durchschaut und nicht mehr darauf hereinfällt, schützt sich auch selbst. Ich mag es nicht, wenn so getan wird, als ob man den Antisemitismus nur den Juden zuliebe bekämpfen soll.

Wer hört Ihren Podcast realistischerweise an?
I Leute, die zu Antisemitismus tendieren, kommen kaum je zu einer Veranstaltung des Antisemitismusbeauftragten. Aber mit Videos und mit Podcasts erreichen wir sie. Ich bin Beauftragter einer Landesregierung in einem Staatsministerium, ich kann nicht lustige Unterhaltungsformate präsentieren, aber ich kann trockene Aufklärung bieten, wo man zum Beispiel verlässliche Informationen zu den Adrenochrom-Verschwörungsmythen von QAnon und Xavier Naidoo findet. Wir bekommen zum Beispiel EMails von Leuten, die sagen, „seitdem meine Tante Sie hört, können wir wieder miteinander reden.“

Das heißt, Leute suchen im Netz nach Stichworten, die sie woanders finden, stoßen auf Sie und hören sich das dann auch unvoreingenommen an? Ich wäre jetzt eher davon ausgegangen, dass man sagt, ein Antisemitismusbeauftragter ist Teil der Verschwörung.
I Also für eingefleischte Verschwörungsgläubige bin ich, wie es ein Twitterer geschrieben hat, ein falscher Jude, der seine Daseinsberechtigung verloren hat. Da brauche ich mir wenig Hoffnung zu machen. Aber wir wissen, auch Verschwörungsgläubige, vor allem am Anfang oder auch zwischendrin, haben manchmal Zweifel. Und in diesen Phasen brauchen sie Informationen, mit denen sie ihre Zweifel bearbeiten können.

Der Musiker Xavier Naidoo wurde immer wieder antisemitisch auffällig und hat nun eine Entschuldigungsaktion gestartet. Wie ernst zu nehmen ist das?
I Xavier Naidoo lebt ja in Baden-Württemberg, und wir haben im Podcast Verschwörungsfragen auch seine antisemitischen Verschwörungsmythen thematisiert. Ich habe jetzt gesagt, sein Statement ist ein erster Schritt. Zu einem nichtöffentlichen Gespräch mit ihm wäre ich auch bereit. Denn es reicht nicht, in einem Drei-Minuten-Video zu sagen, war alles nicht so gemeint. Man muss das aufarbeiten: Was ist da alles schiefgelaufen?Was habe ich auch für Schaden angerichtet? Dieser Weg wird kein leichter sein. Das ist schon etwas, das man auch verlangen muss. Ja, Antisemiten sollten die Möglichkeit haben, sich zu deradikalisieren und zurückzukommen in die Gesellschaft. Aber das ist ein Prozess und nichts, was man in einem Drei-Minuten-Video nachts um halb eins ins Internet stellt und danach wieder in die Talkshows eingeladen wird.

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