Wir kämpfen jeden Tag aufs Neue

Was wie der Traumjob schlechthin schien, entpuppte sich als beinahe unmögliche Herausforderung. Wie behandelt und unterstützt man in kürzester Zeit zig tausende Menschen, die gerade knapp dem Tod entronnen sind? „Wir kämpfen jeden Tag aufs Neue, man kann nicht perfekt sein, wenn man mitten im Chaos steckt“, antwortet Gilad Bodenheimer, Leiter der Abteilung für psychische Gesundheit im israelischen Gesundheitsministerium, im Gespräch mit Daniela Segenreich.

537

Im Juni vor zwei Jahren wurde Dr. Gilad Bodenheimer ins israelische Gesundheitsministerium geholt – er sollte das System auf Trab bringen. Vier Monate später verrichtete die Hamas das grausame Massaker im Süden Israels, schoss zig tausende Raketen auf Israel und verschleppte über 200 Menschen nach Gaza. Von den über 100.000 Evakuierten aus dem Norden und Süden Israels brauchten viele dringend psychologische Hilfe, die Überlebenden der Nova-Party waren schwer traumatisiert, die Familien der Geiseln und Vermissten außer sich vor Schmerz. Die Regierung und das gesamte Gesundheitssystem waren völlig überfordert.

 

WINA: Dr. Bodenheimer, nach dem 7. Oktober 2023 war alles chaotisch, nichts vorbereitet – wie kamen Sie nach erst vier Monaten im Amt als „Verantwortlicher für die seelische Gesundheit der Israelis“ mit dieser überwältigenden Situation zurande?

Gilad Bodenheimer: Ich muss zugeben, dass ich diese Verantwortung als schwere Last auf meinen Schultern empfand. Ich habe mich in den ersten Wochen nach dem 7. Oktober einige Male gefragt, ob ich der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort bin. Aber da ich ein gläubiger Mensch bin, habe ich gedacht, dass es wohl einen Grund hat, dass ich an dieser Stelle bin, und habe mich dieser Herausforderung gestellt.

Es fehlte an allem, die Wartelisten waren lang, und Hilfesuchende mussten bis zu einem halben Jahr auf Behandlung warten. Wie sind Sie es angegangen?

I Unser System der psychischen Gesundheitseinrichtungen hat 2012 eine große Reform durchgemacht, bei der die Verantwortung für die Therapien auf die Krankenkassen übertragen wurde. Aber inzwischen ist das nicht mehr adäquat, und wir haben die Bewältigung des 7. Oktober mit einem Gesundheitssystem begonnen, das in sehr schlechtem Zustand war. Anfangs waren alle Therapieeinrichtungen völlig überfordert, und wir arbeiteten sehr viel mit Volontären. Wir kreierten ein Netz von Sozialarbeitern, die mit den evakuierten Familien in Verbindung standen und die volontierenden Therapeuten in den vielen Hotels, in denen die Evakuierten sich befanden, einteilten. Aber wir verstanden schnell, dass wir uns längerfristig nicht auf freiwillige Helfer verlassen können. Also versuchten wir, Therapeuten, von denen viele seit der Corona-Zeit in privaten Kliniken untergekommen waren, anzuwerben. Weiters haben wir verstanden, dass wir dezentralisieren und verstärkt mit den einzelnen betroffenen Gemeinden arbeiten müssen. Zu Beginn des Krieges gab es nur insgesamt 14 eher kleine Resilienz-Zentren in Israel – zehn im Süden, an der Grenze zu Gaza, zwei in Judäa und Samaria und zwei im Norden, in Galiläa. Es gab monatelange Wartelisten (für Ansuchen um Hilfe), und wir verstanden, dass wir mehr solcher Resilienz-Zentren – Merkasei Chossen – brauchen, auch im Zentrum des Landes, zum Beispiel für die Überlebenden des Nova-Festivals.

Inzwischen gibt es 17 solcher Einrichtungen. Ich komme gerade von der Eröffnung eines weiteren Zentrums im Norden. Wir haben insgesamt 1,4 Milliarden Schekel (etwa 350 Millionen Euro) erhalten, um unser gesamtes System zu adaptieren und zu erweitern, mit dem Fokus auf Behandlungen in den Gemeinden selbst. Die bestehenden Zentren wurden um etwa ein Fünffaches vergrößert.

Wir kreierten anfangs auch eine Art „Hotline“ mit Volontären, um mit den betroffenen Familien aus dem Süden und den Überlebenden der Nova-Party in Kontakt zu treten. Und wir schufen Unterstützung für die Therapeuten selbst, welche die ersten Interventionen nach dem 7. Oktober durchgeführt hatten. Einige von ihnen arbeiteten beispielsweise mit den Familien, die ihre im Massaker ermordeten Verwandten identifizieren mussten, und waren dadurch selbst mit diesen schrecklichen Bildern konfrontiert. Aber wir hatten nicht genug Manpower, nicht genug Psychologen, Psychiater, Therapeuten und Sozialarbeiter.

Eine weitere große Herausforderung waren die Evakuierten. Wir hatten lange Wartelisten und ein wirkliches Problem und brauchten Zeit, um zu expandieren. Es fehlte an Therapeuten, es wurden ja auch Therapeuten und Sozialarbeiter aus dem Gebiet an der Grenze zu Gaza entführt oder ermordet. Und wir konnten keine neuen Therapeuten über Nacht erfinden.

Alles, was wir zu Anfang gemacht haben, war nur ein kleines Pflaster auf einer großen Wunde. Wir mussten neue Strukturen schaffen und sind immer noch mitten in einer großen Änderung, einem großen Umbruch, hin zu Programmen, die im ganzen Land angewandt werden können, zu einem nationalen Programm, bei dem die psychische Gesundheit der Bevölkerung in den Communitys beginnt, wo also die Arbeit zur Stärkung der Resilienz und zur Prävention von posttraumatischen Belastungsstörungen vor Ort in den Gemeinden beginnt. Wir setzen auch viel auf Psychoedukation, damit die Betroffenen verstehen, was mit ihnen los ist und gleichzeitig auch Mittel zur Selbsthilfe erhalten.

Sie haben auch über die sozialen Medien davor gewarnt, zu viele Nachrichten zu sehen, um einer weiteren Traumatisierung vorzubeugen.

I Ja, vor allem in der Zeit nach dem letzten Geiselabkommen haben wir die Familien dazu aufgerufen, die Zeit vor den Bildschirmen zu reduzieren und sich nicht jeden Tag die grausamen Inszenierungen der Hamas anzusehen, um nicht an einer sekundären Traumatisierung zu erkranken.* Also haben wir kurze Videos auf TikTok und Instagram publiziert mit Aufrufen wie „Don’t get stuck on your screen – it is not good for your health“ („Bleibt nicht vor den Bildschirmen stecken – das ist nicht gut für eure Gesundheit“) oder „Take a break from the screen“ („Nehmen Sie eine Pause vom Bildschirm“). Und zum Glück haben auch die öffentlichen Medien das dann eingesehen und die Zeremonie der Hamas vor der Rückgabe der Leichen der Bibas-Familie letztendlich nicht ausgestrahlt.

Man spricht davon, dass wir in Israel in Zukunft eine Lawine von traumatisierten Menschen, vor allem auch Soldaten, zu erwarten haben, wie sehen Sie das?

I Es wird eine gewisse Menge von Menschen geben, die Schwierigkeiten damit haben werden, ins normale Leben zurückzufinden. Wie viele, das wird die Zukunft zeigen. Aber nicht jeder, dem ein Trauma widerfährt, wird automatisch traumatisiert. Die meisten Israelis sind sehr resilient und haben die Fähigkeit, mit dem Trauma zu leben (bzw. nach einem Trauma in ihr Leben zurückzufinden).

Der Verbrauch von Psychopharmaka hat seit dem Krieg um fünf bis acht Prozent zugenommen. Das ist eigentlich nicht so viel. Aber wir sind noch mitten im Chaos, und wir haben noch immer die Geiseln in Gaza. Auch da versuchen wir fortwährend zu verstehen und zu lernen, was sie brauchen und wie wir ihnen noch besser helfen können.

Es gab in der westlichen Welt ja noch nichts wirklich damit Vergleichbares – wie gehen Sie damit um?

I Wir wissen, wie man Traumata behandelt, aber es ist dennoch eine große Herausforderung. Wir beraten uns viel mit Teams, die mit traumatischen Massenereignissen, wie etwa dem 11. September in New York, gearbeitet haben. Wir studieren die besten Interventionen und lernen ständig dazu. So versuchen wir zum Beispiel, den aus Gaza freigelassenen Geiseln möglichst viel Kontrolle über ihre Lage zu geben. Auch während sie noch im Spital sind.

Arbeiten Sie im Gesundheitsministerium mit den zahlreichen NGOs zusammen, die im Laufe des letzten Jahres aus dem Boden gesprossen sind?

I Die Regierung und der öffentliche Apparat arbeiten langsam, die NGOs sind da schneller, also kaufen wir auch Dienstleistungen von außenstehenden Versorgern an und arbeiten mit den NGOs (und mit den Spendern) zusammen. Wir lernen auch von ihnen oder versuchen, Wege der Integration oder der Zusammenarbeit zu finden. Aber Chaos bleibt Chaos, und wir sind noch mitten drin.

Wie gehen Sie persönlich mit diesem Chaos um? Hatten Sie in den letzten eineinhalb Jahren überhaupt noch Zeit für Ihre Familie?

I Ich habe es mir von Anfang an zum Prinzip gemacht, jede Nacht vom Büro nach Hause zu fahren, auch wenn es schon Mitternacht war. Ich habe vier Kinder, eines davon in der Armee, und meine Familie hat jedes Mal mit dem Abendessen auf mich gewartet! Dieser Zusammenhalt, das ist für mich Resilienz! Mit der Unterstützung einer starken Familie kann man fast alles schaffen. Und wir versuchen, das Beste aus dem zu machen, das wir zur Verfügung haben.

  • Man kann auch traumatisiert werden, wenn man etwas nicht selbst erlebt hat.

HINTERLASSEN SIE EINE ANTWORT

Please enter your comment!
Please enter your name here