„Wir sind dabei, erfolgreich zu scheitern”

Seit 20 Jahren kämpft der Verein erinnern.at vor allem in Schulen gegen das Vergessen national-sozialistischer Verbrechen. Seit 20 Jahren bringt sein Yad-Vashem-Projekt österreichische Lehrpersonen zu Seminaren nach Israel. Der Vorarlberger Historiker Werner Dreier ist von Anfang an dabei.

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Werner Dreier geb. 1956 in Bregenz, studierte Geschichte und Germanistik, war Lehrer und forschte und publizierte zu Antisemitismus und Nationalsozialismus. Seit 2000 Aufbau und Leitung von erinnern.at, dort verantwortlich für Lehrerbildung und Entwicklung von Unterrichtsmaterialien, zuletzt der Lern-App „Fliehen vor dem Holocaust“. Mitglied der österreichischen Delegation zur International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA). Beriet OSZE/ODIHR und Unesco zu lehren und lernen über und gegen Antisemitismus. © privat

WINA: Sie sind Geschäftsführer von erinnern.at. Wie sind Sie persönlich zu den Themen Holocaust und Antisemitismus gekommen, denen dieser Verein gewidmet ist?
Werner Dreier: Seit meinen Forschungen zur Vorarlberger Landesgeschichte in den Zwanziger- und Dreißigerjahren wurde ich das Thema Antisemitismus nicht mehr los: 1988 gab ich einen Sammelband zu „Antisemitismus in Vorarlberg“ heraus, und heute arbeiten wir innerhalb von erinnern.at an aktuellen Lernmaterialien. Ich wurde auch durch Begegnungen mit ZeitzeugInnen geprägt, unvergesslich blieben mir die Schulbesuche von Max Schneider, die ich als junger Lehrer begleiten durfte.

Wie sieht Ihre Bilanz nach den ersten 20 Jahren aus?
I Meine persönliche Bilanz ist etwas zwiespältig, denn man könnte sagen, wir sind dabei, erfolgreich zu scheitern. Einerseits erreichen wir hunderte Lehrpersonen, die interessiert und engagiert sind und sich auf einem hohen professionellen Niveau mit der Geschichte des Nationalsozialismus, aber auch mit den Folgen dieser Geschichte für unsere heutige Gesellschaft auseinandersetzen. Wir sehen insbesondere bei unseren jüngeren KollegInnen ein wachsendes Interesse. Auch die Bereitschaft, ZeitzeugInnen einzuladen, wächst, und es gibt einen sehr wertschätzenden Umgang mit diesen. Es gelingt uns, den Holocaust und den Umgang mit dem Völkermord an den Jüdinnen und Juden in den Schulen in Österreich zu einem relevanten Thema zu machen, und wir finden interessierte Lehrer und Jugendliche. Das ist wirklich sehr ermutigend und gar nicht selbstverständlich. Andererseits beobachten wir in den letzten Jahren mit zunehmendem Erschrecken, wie der Antisemitismus, der Antisemitismus in Zusammenhang mit Israel, der Rassismus, der übersteigerte Nationalismus auch in unserer Gesellschaft virulent sind. Und da kann man sich schon manchmal fragen, ob wir nicht erfolgreich scheitern.

»Der Begriff Antisemitismus ist im neuen Regierungsprogramm sehr häufig erwähnt.«
Werner Dreier

In den letzten Jahren hat sich nicht zuletzt durch die gesteigerte Zuwanderung von Menschen aus islamischen Ländern, die mit dem Thema Holocaust überhaupt nichts anfangen können, gesellschaftlich einiges geändert. Man spricht auch von einem importierten Antisemitismus. Beobachten Sie das auch im schulischen Milieu?
I Was den Antisemitismus betrifft, so gibt es in allen österreichweiten Befragungen zwischen einem Viertel bis zu einem Drittel Menschen, die sich auf die eine oder andere Weise antisemitisch äußern. Das variiert in unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen ein bisschen. Es scheint einerseits einen Zusammenhang mit der Bildung zu geben, andererseits sehen wir doch, dass sich auch hochgebildete Menschen antisemitisch äußern oder sogar agitieren. Mit der Vorstellung, dass Antisemitismus mit höherer Bildung verschwindet, und der Zuweisung des Antisemitismus an Zuwanderergruppen sollte man also vorsichtig sein.
Bei den Lehrpersonen, die mit uns zu den Seminaren nach Israel nach Yad Vashem fahren, sind manchmal auch muslimische Lehrkräfte dabei. Sie haben teilweise andere Fragen und einen anderen Hintergrund, aber sie sind gleichermaßen interessiert. Deshalb fahren sie ja mit zu diesen anspruchsvollen Seminaren. Lehrpersonen berichten uns auch von migrantischen Kindern, deren Interesse an der Frage von Massengewalt und Völkermord trotz anderer kultureller und historischer Hintergründe ein großes ist.

Beobachtet man konkret antisemitische Vorurteile im schulischen Milieu, und was bedeuten die gestiegenen Zahlen für Ihr Projekt?
I Es gibt Untersuchungen etwa in berufsbildenden Schulen, die sagen, ja, es gibt einen bedenklichen Anteil von antisemitischem Sprechen, z. B. an Berufsschulen. Ich kenne keine validen Zahlen, was dabei die Zuwanderer betrifft, es gibt aber Beobachtungen, dass es bei muslimischen Jugendlichen einen etwas höheren Anteil von antisemitischen Äußerungen insbesondere im Zusammenhang mit Israel gibt als in der Restbevölkerung. Für uns bedeutet es, dass wir unsere Bemühungen in der Aufklärungsarbeit über Antisemitismus und in der Präventionsarbeit gerade in Berufsschulen verstärken.

Wie funktioniert das konkret?
I Wir entwickeln gerade gemeinsam mit bayrischen und schweizerischen KollegInnen ein Projekt, das Lehrpersonen in ihrer Ausbildung jene professionellen Fähigkeiten und Kompetenzen, Haltungen und Motivationen vermittelt, die es ihnen dann ermöglichen, in ihrer Arbeit besser mit Antisemitismus und Ähnlichem umgehen zu können. Weiters bieten wir adäquate Materialien für heterogene Klassen mit Jugendlichen ganz unterschiedlicher Herkünfte an, in denen möglichst viele Jugendliche einen Anknüpfungspunkt finden sollen. Das heißt einen Punkt des Interesses, bei dem sie auch empathisch sein können. Ein solches ist das Projekt Fluchtpunkte. Dabei geht es um Menschen, die sich in der Geschichte des 20. Jahrhunderts zwischen dem Nahen Osten und dem europäischen Raum bewegen, wie die Flucht von jüdischen Menschen aus Europa nach Palästina oder die Flucht heute von Syrien nach Europa, und dass man über diese Flucht- und Migrationserfahrungen Lernen generieren kann.

Sind derartige Ziele im Lehrplan festgeschrieben?
IDer Lehrplan in Österreich stellt nur einen Rahmen dar, der aber diese Inhalte in den Schulen möglich macht. In den meisten Lehrplänen ist auch das Thema Antisemitismus verankert, d. h. es gibt Ankerpunkte, die eine Bearbeitung dieses Themas notwendig machen. Ebenso sind Nationalsozialismus und Holocaust in allen österreichischen Schulen als Lehrplaninhalte vorgesehen.

Inwiefern korreliert das mit dem Yad-Vashem-Projekt, in dem es um persönliche Erfahrungen der Lehrpersonen geht? Welche Auswirkungen zeigen sich da?
I Es hat sich aus den hunderten persönlichen Kontakten an vielen wichtigen Plätzen und Institutionen in Österreich ein sehr schönes und tragfähiges Netzwerk herausgebildet, das für uns sehr wichtig ist, wenn wir z. B. Seminare anbieten oder Schulen für Testungen neuer Lernmaterialien suchen. Mittlerweile sind diese Seminare ja auch Teil von Hochschullehrgängen, in die sie integriert sind, etwa der Lehrgang über Pädagogik an Erinnerungsorten in Oberösterreich.

»Es gibt einen bedenklichen Anteil von antisemitischem Sprechen, z. B. an Berufsschulen.«
Werner Dreier

Apropos Gedenkstättenpädagogik. Gibt es da vermehrt Initiativen, Jugendliche an Holocaust-Orte heranzuführen, oder kommt man davon eher ab. Wie ist da die Tendenz?
I Es gab einen Erlass des Unterrichtministeriums, der den Besuch von Gedenkstätten fördern sollte, und es gibt auch von unserer Seite dazu viele Initiativen, im Wesentlichen die Gedenkstätte in Mauthausen, aber auch die Gedenkstätte Auschwitz betreffend. Wir erarbeiten im Moment Materialien für die neue Ausstellung der Gedenkstätte Auschwitz, und erinnern.at ist auch in Mauthausen mit der Vor- und Nachbereitung des Gedenkstättenbesuchs befasst.
Im Moment sind wir auch an einem neuen internetbasierten Projekt beteiligt: einer Geodaten referenzierten Landkarte zu NS-Erinnerungsorten, die für unterschiedliche Endgeräte optimiert ist und einen Besuch von regionalen, lokalen Gedenkorten sowie eine Auseinandersetzung mit diesen ermöglichen soll.

Welchen Stellenwert haben die Aufarbeitung des Holocaust und das Problem des steigenden Antisemitismus im Programm der neuen Regierung?
I Der Begriff Antisemitismus ist darin jedenfalls sehr häufig erwähnt, ebenso findet das Gedenken an den Nationalsozialismus Erwähnung, und auch unsere Arbeit ist im Regierungsprogramm angesprochen. Ich bin optimistisch, dass es sich nicht nur um Lippenbekenntnisse handelt, sondern auch um substanzielle Inhalte.

Wie wird sich das im Budget niederschlagen, denn derlei Initiativen kosten ja etwas?
I Das ist die Kernfrage, daran wird es sich zeigen, wie ernsthaft das gemeint ist. Wir arbeiten seit 20 Jahren unter ganz unterschiedlichen Regierungen und haben das große Glück, auf der Beamtenebene immer starke Unterstützung zu finden. Martina Maschke und Manfred Wirtitsch vertreten das Unterrichtsministerium im Vorstand von erinnern.at, und ich erwarte mir die Fortsetzung dieser positiven Entwicklung.

Aus Ihrer Arbeit erwächst auch eine intensive Beziehung zu Israel. Ist diese eine Einbahnstraße, oder kommt da ein Austausch zustande?
I Wir sind gerade in einem sehr schönen Projekt, einem Schulbuchdialog mit Israel involviert. Da analysieren wir gemeinsam die österreichischen und israelischen Schulgeschichtsbücher und untersuchen, wie Themen wie jüdische Geschichte, Nationalsozialismus, Antisemitismus und Israel in österreichischen Geschichts- und Geografiebüchern dargestellt werden. Die israelischen KollegInnen analysieren die Darstellung Österreichs in israelischen Schulbüchern. Das ist ein teilweise sehr komplexer Dialog.

Welche Rolle spielt Österreich in diesen israelischen Schulbüchern?
I Josef II. und die Anerkennung der jüdischen Religion wie auch der Zionismus und Herzl spielen zum Beispiel eine größere Rolle, während interessanterweise der Nationalsozialismus im Wesentlichen als deutsches Phänomen abgehandelt wird.


Das Yad-Vashem-Projekt
Seit dem ersten Seminar für österreichische Lehrpersonen an der Gedenkstätte Yad Vashem im Herbst 2000 besuchten fast 800 Lehrerinnen und Lehrer in insgesamt 34 Seminaren Israel. Dort erlebten sie an der International School for Holocaust Studies und für einige Tage auch am Center for Humanistic Education an der Gedenkstätte Lohamei Hagetaot ein jeweils zweiwöchiges Seminar. Die Seminarkosten werden vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung getragen.

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