Wir werden bleiben

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© FABRICE COFFRINI / AFP / picturedesk.com, SEBASTIEN BOZON / AFP / picturedesk.com

All the pain will go by

But we will stay!

Yuval Raphael:  New Day Will Rise

Heuer im Mai, vor 80 Jahren, wurden die Tore von Auschwitz geöffnet. Was dort zum Vorschein kam, hat das Verständnis von Menschlichkeit für immer verändert. Auschwitz wurde zum Symbol des Grauens, der absoluten Entgrenzung von Hass und Gewalt. Und es wurde zum moralischen Prüfstein jeder Generation, die danach kam. „Nie wieder“ wurde zur Formel, zur Pflicht, zur Hoffnung.

Ich gehöre zur dritten Generation. Meine Großeltern haben die Schoa überlebt. Sie sprachen kaum darüber – doch ihre Stille war so laut, dass sie in mir noch immer widerhallt. Wir, die Enkel, wuchsen mit der Gewissheit auf, dass das Unfassbare geschehen war – und nie wieder geschehen darf.

Doch heute, nach dem 7. Oktober 2023, müssen wir die bittere Frage stellen: Was hat die Welt aus Auschwitz gelernt? Ist das „Nie wieder“ noch unsere Realität?

Der barbarische Angriff auf Israel war nicht nur ein Angriff auf jüdisches Leben – er war ein moralischer Prüfstein für die Welt. Doch zu viele sind bei dieser Prüfung durchgefallen.

Statt Solidarität überrollt uns eine globale Welle des Antisemitismus: auf den Straßen, in den Universitäten, in den sozialen Netzwerken – und das Schweigen der Mitte ist dabei ohrenbetäubend. Wie Primo Levi schrieb: „Es gibt die Ungeheuer, aber sie sind zu wenige, um wirklich gefährlich zu sein. Gefährlich sind die normalen Menschen.“

Das Erinnern an Auschwitz ist keine Pflichtübung, sondern muss sich zur inneren Haltung formen. Denn Auschwitz war kein Naturereignis und fiel nicht plötzlich vom Himmel. Es war das Ergebnis bewusster Entscheidungen, jahrzehntelanger Hetze und schleichender Gleichgültigkeit. Heute sind die Formen neu, die Vermittlungskanäle andere – aber die Muster sind gleich geblieben. Doch wie begegnen wir diesem Zynismus und Hass?

Eine der Antworten darauf ist: jüdisches Leben – nicht aus Angst, sondern aus Überzeugung. Nicht als Rückzug, sondern als bewusste Entscheidung. Es braucht Bildung, Gemeinschaft und eine Identität aus Überzeugung. Stets offen, versöhnlich – aber auch resilient und wachsam.

Was hat die Welt in acht Jahrzehnten aus Auschwitz gelernt? Offenbar nicht genug. Denn wenn ein Pogrom an Juden zu Demonstrationen gegen sie führt, wenn dabei Opfer zu Tätern gemacht werden und jüdisches Leben immer mehr eingeschränkt wird, dann ist nicht nur die Erinnerung in Gefahr – sondern auch unsere Gegenwart.

Die letzten Zeitzeugen verlassen uns langsam. Was bleibt, sind unsere Familiengeschichten – sie mahnen uns zur Menschlichkeit, aber auch zur Wachsamkeit.

Es ist jetzt wohl die Zeit gekommen, dass wir „Nie wieder“ nicht nur zitieren, sondern auch verteidigen.

Mit Haltung, Klarheit, Mut – auch wenn viele tote Juden lieber mögen als wehrhafte. Doch das sind wir unseren Großeltern, unseren Kindern – und der Welt – schuldig.

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