„Wir werden uns impfen lassen und unser normales Leben leben“

Der griechisch-jüdische Pfizer-Chef Alfred Bourla erzählte vor dem US-Kongress seine dramatische und bewegende Familiengeschichte zum ersten Mal öffentlich.

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Alfred Bourla. Vereinbarung für die Zusammenarbeit mit Biontech per Handschlag. © BRENDAN SMIALOWSKI/AFP/picturedesk.com

Ein griechischer Jude und ein türkischer Muslim, beide Einwanderer in verschiedenen Ländern, arbeiten zusammen, ohne einen Vertrag zu unterschreiben, nur um die Welt zu retten. Ich denke, das ist eine wunderbare Botschaft“, erklärt Albert Bourla, Vorstandsvorsitzender von Pfizer, der gemeinsam mit Ugur Sahin, dem Gründer von Biontech, Wesentliches zur Gesundung der Menschen auf dieser geplagten Welt beigetragen hat.
Rückblickend scheinen zwei unorthodoxe und hoch riskante Entscheidungen zum schnellsten und erfolgreichsten Biontech-Pfizer-Impfstoff geführt zu haben. Zuvorderst stand das Vertrauen zwischen Bourla und Sahin, die zu arbeiten begannen, ohne einen Vertrag abgeschlossen zu haben. „Wir waren uns sofort einig, dass wir zu viel Zeit verlieren, wenn wir mit der Arbeit warten, bis wir einen solchen Multi-Milliarden-Dollar-Vertrag haben“, erinnert sich Bourla. „Wir haben einen Handschlag per Zoom gemacht und angefangen zu arbeiten. Nach drei Wochen haben wir beide eine Absichtserklärung unterschrieben – einen zwei- oder dreiseitigen Brief anstatt eines tausendseitigen Vertrags wie üblich.“ Erst im Jänner 2021 – da wurde mit dem Vakzin schon weltweit geimpft – wurde der endgültige Vertrag unterzeichnet.
Zweitens hat das Unternehmen große Subventionen abgelehnt und trotzdem als erstes die Zulassung für einen Covid-Impfstoff erhalten. „Ich habe versucht, unsere Wissenschaftler vor der Bürokratie zu schützen, falls wir öffentliche Gelder angenommen hätten“, erläutert Bourla. „Die Regierungen möchten mit vollem Recht wissen, wie und wo sie das Geld ausgeben. Ich konnte von unseren Wissenschaftlern nicht verlangen, in neun Monaten etwas zu tun, wofür sie normalerweise zehn Jahre brauchen, wenn sie sich noch Gedanken über Geld machen müssen.“ Daher setzte man zwei Milliarden Dollar aufs Spiel im Wissen, dass ein Scheitern zwar einen finanziellen Schmerz bei Pfizer auslösen, aber bei der Größe des Unternehmens keine Existenzbedrohung bedeuten würde.
In einem Interview mit dem deutschen Handelsblatt* vergleicht Bourla seine persönliche Geschichte mit dem US-deutschen Joint Venture und dessen Erfolg und meint, dass ihn seine Herkunft auch auf diese Arbeit gut vorbereitet habe: „Ich gehörte als Jude zu einer kleinen Minderheit in Griechenland. Da lernt man, widerstandsfähig zu sein. Es gibt Enttäuschungen, wenn du ein Kind bist und dir einer bei einer Schlägerei Hau ab, Jude! sagt. Doch man lernt auch, seine Identität, seine Andersartigkeit anzunehmen.“
Dieses Anderssein erfuhr der 59-jährige Bourla, der im griechischen Thessaloniki geboren wurde und seit zwei Jahren einen der weltweit größten Pharmakonzerne der Welt mit einem Jahresumsatz von 35 Milliarden Euro führt, anhand seiner engsten Familiengeschichte. Zum diesjährigen internationalen Holocaust-Gedenktag Ende Jänner beschloss Bourla, die dramatische Überlebensgeschichte seiner Eltern und einiger Verwandten in vollem Umfang publik zu machen. Gelegenheit dazu bot ihm die Einladung des SHIN (Sephardic Heritage International in Washington, D.C.) im angesehenen Rahmen der offiziellen Gedenkfeier des US-Kongresses. „Das Motto We Remember (Wir erinnern uns) hat mich dazu inspiriert, die Geschichte meiner Eltern zu erzählen. Ich bin sehr glücklich und dankbar, dass meine Familie über ihre schlimmen Erfahrungen in der Schoah offen gesprochen hat, denn viele haben das vermieden, um den Schmerz von den Nachkommen fernzuhalten.“ Wichtig war Bourla auch zu betonen, dass trotz des großen Leides zu Hause weder Bitterkeit noch Rache geschürt, sondern das Glück des Überlebens gefeiert wurde.

„Der Hass würde uns nur die Zukunft verbauen.“ Die Lebensgeschichte von Mois und Sara Bourla beginnt eigentlich schon 1492 mit der Vertreibung ihrer Vorfahren aus Spanien infolge des Alhambra-Edikts: Dieses zwang die Juden, entweder zum Katholizismus zu konvertieren oder das Land zu verlassen. Wie viele andere landeten auch die Vorfahren der Bourlas in Thessaloniki, im ottomanischen Reich, das erst seit 1912 zu Griechenland gehört. Bis zum verheerende Europa-Feldzug Hitlers nannte man die Stadt „La Madre de Israel“, weil das jüdische Leben dort derart florierte. Der Hafen von Saloniki war am Schabbat gesperrt, weil der Anteil der jüdischen Arbeiter so groß war, dass ohne sie nichts funktionierte. „In weniger als drei Jahren gelang es der deutschen NS-Besatzung, diese blühende Gemeinde zu vernichten: Als die Nazitruppen in Saloniki einmarschierten, lebten rund 50.000 Juden in der Stadt“, berichtet Albert Bourla. „Davon haben nur etwa 2.000 überlebt. Glücklicherweise gehörten meine Eltern zu diesen wenigen Überlebenden.“
Die Familie des Vaters wurde in einem der Ghettos der Stadt mit anderen Entrechteten in kleinen Wohnungen zusammengepfercht. Nur mit dem gelben Stern auf der Brust durften sie gelegentlich das Ghetto verlassen. Eines Tages im März 1943 blockierten NS-Truppen die Tore des umzäunten Ghettos. Bourlas Vater Mois und sein Onkel Into waren außerhalb des Ghetto, und als sie sich dem Tor näherten, begegneten sie ihrem Vater, der ebenfalls draußen war. Bourlas Großvater beschwor Mois und Into, sich irgendwo zu verstecken, er aber würde zurück in das Ghetto gehen, wo seine Frau und zwei weitere Kinder eingesperrt waren. „Am gleichen Tag wurde mein Großvater Abraham Bourla, seine Frau Rachel, seine Tochter Graciela und der jüngste Sohn David zu einer Bahnstation verbracht und in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Mois und Into haben sie niemals wieder gesehen“, erzählt Albert Bourla.
Noch in der gleichen Nacht flohen die Brüder nach Athen, wo ihnen der Polizeichef, der damals viele Juden vor der NS-Verfolgung rettete, falsche Papiere ausstellte: Als Manolis und Vasilis erlebten sie die Befreiung und kehrten nach Saloniki zurück, wo niemand und nichts mehr aus ihrem früheren Leben übriggeblieben war. Aus dem Nichts bauten sie einen Spirituosenhandel auf und führten diesen bis zur ihrer Pension gemeinsam.

»Ich bin sehr glücklich und dankbar, dass meine Familie über ihre schlimmen Erfahrungen in der Schoah offen gesprochen hat, denn viele haben das vermieden, um den Schmerz von den Nachkommen fernzuhalten.«
Alfred Bourla

Nicht weniger dramatisch verlief die Rettung von Sara Bourla, die die jüngste von sieben Kindern war. Ihre älteste Schwester war schon vor dem Krieg zum Christentum konvertierte, um ihre große Liebe heiraten zu können. „Deshalb hat mein Großvater nie mehr mit dieser Tochter gesprochen. Erst als klar wurde, dass die Familie nach Polen verschickt werden sollte, wo die Deutschen ihnen ein ‚neues Leben in einer jüdischen Siedlung‘ vorgaukelten“, referiert Albert Bourla vor dem US-Kongress, „rief er die Verbannte zu sich und bat sie, ihre jüngste Schwester meine Mutter zu sich zu nehmen. Das war ihr letztes Zusammentreffen, denn kurz danach wurde die gesamte Familie in Auschwitz ermordet.“
Sara Bourla konnte bei „ihrer“ christlichen Familie unbehelligt leben.
Erst als ihr Schwager nach Saloniki versetzt wurde, musste sie sich 24 Stunden lang im Haus verstecken, weil man sie in ihrer Heimatstadt kannte. Sara war noch ein Teenager und schlich sich manchmal hinaus. Bei einem ihrer „Ausflüge“ wurde sie erkannt, verraten und verhaftet. Sie kam in ein örtliches Gefängnis, und das war lebensgefährlich: Die Bevölkerung wusste, dass von dort täglich zu Mittag Gefangene auf Lastwagen aus der Stadt gebracht wurden, um am nächsten Morgen exekutiert zu werden.
„Saras Schwager, mein teurer christlicher Onkel Kostas Dimadis, zahlte dem NS-Hauptmann Max Merten** eine hohe Summe und nahm ihm das Versprechen ab, meine Mutter zu verschonen“, erzählt der Sohn. „Doch meine Tante traute dem Deutschen nicht und beobachtete täglich die Transporte. Was sie befürchtet hatte, trat ein: Eines Tages war meine Mutter auf dem Laster.“ Dimadis kontaktierte Merten und forderte dessen Versprechen ein. Sara war im Morgengrauen bereits mit anderen Frauen und Männer zur Exekution angetreten, als in letzter Minute ein Soldat auf einem BMW-Motorrad dem Kommandanten der Erschießungstruppe ein Papier aushändigte. „Meine Mutter und noch eine Todgeweihte wurden herausgeholt. Als sie wegfuhren, hörte meine Mutter das Maschinengewehrgeratter, das jene abschlachtete, die dortgeblieben waren. Das war ein Geräusch, das sie bis an ihr Lebensende im Ohr hatte.“
Sara wurde zwei Tage danach entlassen, und nur wenige Wochen darauf verließen die NS-Truppen Griechenland.

»Als sie wegfuhren, hörte meine Mutter das Maschinengewehrgeratter, das jene abschlachtete, die dort geblieben waren.«
Alfred Bourla

Acht Jahre später trafen Albert Bourlas Eltern durch einen Schidduch (von den Eltern vereinbartes Kennenlernen zum Zwecke der Heirat) aufeinander und heirateten. „Mein Vater hatte zwei Träume für mich: Erstens wollte er, dass ich Wissenschaftler werde, und zweitens hoffte er, dass ich ein jüdisches Mädchen heiraten würde“, lacht Bourla. „Ich bin glücklich, dass mein Vater beides noch erlebt hat.“ Den 1961 geborenen Sohn nannten Mois und Sara in Erinnerung an den ermordeten Großvater Israel-Abraham erst im Alter von 34 Jahren, als der heutige Pfizer-Vorstandsvorsitzende in die USA auswanderte, änderte er seinen Namen von Abraham zu Albert.
Zuvor promovierte er an der Veterinärmedizinischen Fakultät der Aristoteles-Universität Thessaloniki in Reproduktionsbiotechnologie. 1993 kam Bourla zu Pfizer und arbeitete zunächst als Doktor der Veterinärmedizin und technischer Direktor für die Tiergesundheitsabteilung des Unternehmens in Griechenland. 2005 und bis 2009 verantwortete er die Abteilung Europa, Afrika und Naher Osten von Animal Health. Später war er als Gruppenleiter des Pfizer-Geschäftsbereichs Impfstoffe, Onkologie und Consumer Healthcare tätig, wo er unter anderem die Arbeit des Konzerns an Krebs- und Herzmedikamenten leitete und an der Einführung wichtiger Medikamente zur Behandlung von Brustkrebs beteiligt war.

„Selbst nur so gut geschützt wie unser Nachbar.“ „Ein Immigrant zu sein, ist meiner Meinung nach die wichtigste Eigenschaft von allen“, sagte Bourla zum Handelsblatt. „Ich habe mit meiner Familie in acht Städten in fünf Ländern gelebt, viele davon in Europa. Das gab mir und meinen Kindern das beste Geschenk – den Kontakt zu verschiedenen Kulturen.“ Für den Pfizer-Chef ist die internationale Zusammenarbeit in der Pandemie unerlässlich, denn „wir dürfen nicht vergessen, dass jeder bei einer Pandemie nur so geschützt ist wie sein Nachbar“. Denn genauso, wie das Virus vor keiner Grenze haltmacht, kann auch seine Bekämpfung nicht von einem Land allein geleistet werden.
Das sei auch der Grund, dass der Biontech-Pfizer-Impfstoff nicht überall gleich viel koste. Man habe sich bewusst für ein System mit drei verschiedenen Preisen entschieden. Das bedeutet, dass es in den einkommensstarken Ländern in Europa und den USA, in Japan oder Kanada vielleicht einen gewissen Rabatt gebe, das Vakzin dabei einen klaren Preis habe, der sich an den Kosten für eine Mahlzeit orientiert. In Ländern, die nach Weltbank-Definition wirtschaftlich im Mittelfeld liegen, gelte ungefähr der halbe Preis. Aber, so Bourla, „in Ländern mit niedrigem Einkommen geben wir den Impfstoff zum Selbstkostenpreis ab. Wenn in Afrika nicht genügend Impfstoffe zur Verfügung stehen würden, wäre das nicht nur unethisch. Afrika würde zu dem Pool, in dem sich das Virus weiter repliziert, und dort würden die meisten Varianten auftreten.“
Auf die Frage der Journalisten, ob seine Karriere auch in Europa möglich gewesen wäre, meinte Bourla: „Ich fürchte, die Antwort ist, dass sie möglich gewesen wäre, aber es ist weniger wahrscheinlich. In Amerika, mit all den Kontroversen, die dieses Land haben mag, nehmen sie dich auf. Ich wurde zum CEO dieser Firma gewählt, vom Verwaltungsrat, der meine bescheidenen Anfänge kannte, meinen sehr starken Akzent und dass ich hier und da falsche Wörter im Englischen benutze.“
Nach der Prognose für die Zukunft befragt, sagte Bourla Ende April zur Times of Israel: „Sechs Monate nach den beiden Impfungen mit unserem Vakzin ist der Schutz noch immer sehr hoch. Er ist nicht so hoch wie in den ersten zwei Monaten, aber er liegt immer noch weit über 80 Prozent. Eine Auffrischungsimpfung wird notwendig sein, aber zur genauen Bestimmung des Zeitpunkts fehlen uns noch die Daten.“ Wenn man weiß, wie viel Hoffnung und Optimismus Alfred Bourla in die Wiege gelegt wurde, wundert es nicht, dass er bei allem wissenschaftlichen Realismus vornehmlich das amerikanische positive thinking praktiziert: „Das wahrscheinlichste Szenario ist, dass wir zu einer endemischen Situation kommen, die vollständig kontrollierbar sein wird. Wir haben eines der mächtigsten Werkzeuge, das wir in der Medizin entwickeln konnten, nämlich einen Impfstoff mit 97 Prozent Wirksamkeit. Die Technologie von mRNA kann man sehr schnell anpassen, wenn eine Mutation auftritt. Daher denke ich, dass es wie eine Grippe werden wird. Wir werden uns impfen lassen und unser normales Leben leben.“

* Das Handelsblatt-Interview wurde gemeinsam mit der italienischen La Stampa, der französischen Les Echos und der spanischen El Mundo geführt.
** Max Merten war Verwaltungsoffizier der Heeresgruppe E in Saloniki im Range eines Hauptmanns. Er unterzeichnete Befehle zur Kennzeichnung, zur Ghettoisierung und zum Vermögenseinzug von Juden. Diese Maßnahmen erleichterten es Alois Brunner, den Massenmord an den Juden von Saloniki durchzuführen.

1 KOMMENTAR

  1. Leider würde unser Leben nie mehr dasselbe sein und kein Impfstoff kann das ändern. Aber was würden wir ohne tun. Es wäre so viel wert. Ohne sie wären wir wahrscheinlich alle noch im Lockdown. Daher sollten alle Menschen auf der Erde Phizer danken und ihnen alles Gute wünschen, während „Delta“ ankommt.

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