Wo der gelungene Ausstieg zum klaren Aufstieg wurde

Vom Gang-Mitglied in Berlin-Wedding in das Machtzentrum der israelischen Politik schaffte es Arye Sharuz Shalicar, der deutsch-persisch-israelische Politologe und Schriftsteller. Wie das geht, erklärt er bisher in drei Büchern.

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Arye Sharuz Shalicar beim WINA-Interview in Wien. © Marta Halpert

WINA: „Er war ein König der Kleingangster in Berlin, damals in seiner Weddinger Jugend: Dealer, Sprayer, Messerstecher. Und er war Jude, angefeindet, bedroht. Arye Sharuz Shalicar suchte nach seiner Identität – und hat sie gefunden: Er ging nach Israel“, schreibt der Berliner Tagesspiegel 2014 in einem Porträt über Sie. Was in der Beschreibung noch fehlt, ist Ihr Studium der Politologie, des Judaismus und des Islam – und Ihre Karriere als Sprecher der israelischen Armee sowie die Tatsache, dass Sie heute als Beamter für sicherheitspolitische Fragen im Kabinett von Regierungschef Bennet sitzen. Erst im Jahr 2010 – also neun Jahre nach der Alija – ist ihr erstes Buch* über Ihre Jugendzeit erschienen. Warum hat das solange gedauert?
Arye Sharuz Shalicar: Es war Zufall, dass es überhaupt dazu gekommen ist. Bereits im Jahr 2000 reiste ich nach Frankreich, Israel und nach Los Angeles und stellte mir dabei immer wieder die Frage, was ich aus meinem Leben machen möchte. Schon damals schrieb ich meine Erlebnisse und Gedanken auf lose Blätter. Als ich mich für Israel entschieden hatte, waren es knapp 300 Seiten. Diese Notizen waren eigentlich für meine Kinder gedacht: Auf ihre Fragen, wie „Papa, warum bist du aus Berlin weggezogen“, wollte ich mit diesen Aufzeichnungen antworten.

Doch es kam anders?
I Ja, denn ich habe damals für den ARD-Korrespondenten Richard C. Schneider in Tel Aviv gearbeitet, und in einem privaten Gespräch hat er mich befragt und danach gedrängt, das niederzuschreiben. Als ich meinte, das wäre doch alles sehr persönlich, großteils auch unangenehm, wegen der Drogen, wegen des Zustechens, lautete seine Antwort: „Aber das ist doch die Realität!“ Er hat mich sofort zu seinem Verleger in München vermittelt.

Im September 2021 kam die Verfilmung Ihres ersten Buches ins deutsche Kino. Jüngst konnte man Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude beim Jüdischen Filmfestival Wien sehen. Haben Sie diese Offenheit je bereut?
I Nein, weil ich gemerkt habe, wie dieses Outing – das Buch, der Film – mir hilft, meine Vergangenheit zu bearbeiten.

Sie sprechen noch immer in der Gegenwart, „hilft“. Sie wurden 1977 in Göttingen geboren, Ihre jüdischen Eltern waren aus dem Iran geflohen. Sie sind 45 Jahre alt, verheiratet, haben zwei Kinder. Aber auch die Niederschrift hat Ihnen nicht geholfen, das Jugendtrauma in den Griff zu kriegen?
I Das Schreiben hilft jedem bei der Traumabewältigung, der das als Instrument wählt. Mir hat das Schreiben sehr geholfen, und es hilft mir bis heute: Mein neuestes Buch, das im Herbst 2022 erscheint, heißt Shalom Habibi, und auch darin geht es um die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, denn es handelt vom muslimisch-jüdischen Verhältnis, was ich darüber weiß und was ich tagtäglich in meiner Arbeit wahrnehme. Da kommen meine Erfahrungen in Deutschland ebenso vor wie jene mit meinen muslimischen Freunden in der israelischen Armee und dank der beruflichen Reisen in der Region.

 

„Verschwörungstheorien, die nun während der
Corona-Pandemie hochgekommen sind,
hörte ich schon Jahre früher.“

Arye Sharuz Shalicar

 

Ihr zweites Buch Der neu-deutsche Antisemit – Gehören Juden heute zu Deutschland? haben Sie 2018 veröffentlicht. Was war hier der Auslöser?
I 70 Jahre nach dem Holocaust frage ich mich, ob Juden heute zu Deutschland gehören und wie willkommen sie wirklich sind. Drei Generationen nach der Shoah frage ich mich, ob Deutschland sich in seiner Haltung den Juden gegenüber wirklich grundlegend verändert hat. Nur das Motto „Nie wieder“ zu predigen, reicht nicht mehr. Ich habe für dieses Buch fast sieben Jahre recherchiert, mit deutschen Spitzenpolitikern, NGOs, Journalisten, Polizisten, Bundeswehrsoldaten, Akademikern und christliche Pilgergruppen gesprochen: Es wird einem mit der Zeit übel, weil die Menschen teilweise mit ganz dummen und falschen Narrativen daherkommen. Verschwörungstheorien, die nun während der Corona-Pandemie hochgekommen sind, hörte ich schon Jahre früher. Daher habe ich mich in diesem Buch einiges getraut, denn ich habe es nicht für Israelis oder Juden, sondern nur für die Deutschen geschrieben, denen ich damit den Spiegel vorhalte.

Welche Ratschläge findet man in Ihrem dritten Buch 100 Weisheiten, um das Leben zu meistern: Selbst wenn du aus dem Ghetto stammst?
I Seit meiner Autobiografie wurde ich bei vielen Gelegenheiten, ob bei Lesereisen oder als Sprecher der israelischen Armee, immer wieder gefragt: Wie kann es sein, dass du es geschafft hast, da rauszukommen und ein normales Leben zu führen? Da diese Fragen eigentlich nie aufhörten, wollte ich jungen Männern aus prekären Milieus Perspektiven geben und Wege in ein geregeltes Leben aufzeigen. Weil ich Jude bin, werde ich von Muslimen wahrscheinlich nicht gerne gelesen. Andererseits glaube ich, dass meine „Street Credibility“ wirkt: Wenn sie merken, dass ich weiß, wie sie ticken, dann lassen sie sich darauf ein.

Sie waren im Sudan, Oman, in Ägypten, aber auch in Ländern, die keine diplomatischen Beziehungen zu Israel haben. Haben Sie für diese Aufgaben eine Geheimdienstausbildung?
I Nein, ich bin Beamter ohne politische Zugehörigkeit oder Abhängigkeit. Als Israel Katz 2019 Außenminister wurde, reiste ich mit ihm in den Oman. So habe ich einfach das Glück, bestimmte Dinge zu sehen.

Katz war von 2015 bis 2020 auch Minister für die Nachrichtendienste?
I Ich arbeite seit 2017 als Abteilungsleiter für „Internationale Beziehungen“ im Büro des Premierministers in Jerusalem. Mein direkter Vorgesetzter ist jetzt auch der Minister für die Nachrichtendienste, Elazar Stern. Meine Aufgabe ist die Sicherheitspolitik: Wenn Israel Kontakte mit den Vereinigten Arabischen Emiraten aufnimmt, muss man im Vorfeld einiges vorbereiten. Ist der Frieden mit einzelnen arabischen Ländern noch sehr neu, muss man schauen, auf welchen Gebieten man sich näher kommen kann.

Sie haben als Major – genauso wie Minister Stern – die israelische Armee verlassen. Davor waren Sie acht Jahre einer der vier offiziellen Sprecher der israelischen Armee und sind jetzt Militärsprecher in Reserve. Was bedeutet das konkret?
I Zum Beispiel, dass ich während des Israel-GazaKonfliktes 2021 mit der Hamas als Sprecher der israelischen Streitkräfte wieder reaktiviert worden bin. Wenn morgen – G-tt behüte – Krieg ist, bin ich in Uniform.

* Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude. Die Gesychichte eines Deutsch-Iraners, der Israeli wurde. dtv 2010.


ARYE SHARUZ SHALICAR,
geboren 1977 in Göttingen, ist ein deutsch-persischisraelischer Politologe und Schriftsteller. Als Jugendlicher gründete er im Berliner Wedding Deutschlands berüchtigtste Graffiti-Gang Berlin Crime. Er diente in der Bundeswehr und wanderte 2001 nach Israel aus. An der Hebräischen Universität Jerusalem studierte er Nahostgeschichte und Politik und schloss 2006 (BA) und 2009 (MA) mit Auszeichnung ab. Danach diente er als offizieller Sprecher
der israelischen Verteidigungsstreitkräfte. Seit 2017 ist er für die israelische Regierung tätig.

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