Wo man sich kümmert

Zwei Einrichtungen der IKG Wien feiern heuer einen runden Geburtstag: Das Maimonides-Zentrum, das Elternheim der Wiener jüdischen Gemeinde, ist 50 Jahre alt. Das psychosoziale Zentrum ESRA feiert sein 30-jähriges Bestehen. Wie wichtig beide Häuser für die Gemeindemitglieder sind, zeigt nicht zuletzt deren über die Jahre stark gewachsenes Leistungsangebot. WINA bat Judith Adler, die Beiratsvorsitzende des MZ, und ESRA-Obfrau Dwora Stein um einen Einblick in Geschichte und Gegenwart der beiden Institutionen.

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Das Maimonides-Zentrum (MZ) bietet älteren Menschen der jüdischen Gemeinde und auch denjenigen, die sich mit den Werten der jüdischen Gemeinschaft identifizieren, altersgerechtes Wohnen nach anspruchsvollem Standard. Neben proffesioneller Hilfe im Pflegeheim können je nach Bedarf und Notwendigkeit auch eine Vielfalt von Angeboten der Tagesstätte und der Seniorenresidenz in Anspruch genommen werden. Es ist österreichweit die einzige jüdische Seniorenbetreuungsstätte, die somit auch ein ganz besonderes Augenmerk auf die speziellen Bedürfnisse von Holocaust-Überlebenden legt. maimonides.at

WINA: Das Maimonides-Zentrum wurde vor 50 Jahren eröffnet. Was waren die Meilensteine in diesen fünf Jahrzehnten?

Judith Adler: Vielleicht kurz zur Struktur des MZ – es ist zu 100 Prozent im Eigentum der IKG Wien. Die Verbindung wird durch den Beirat erbracht, der die Eigentümerinvertritt. Ich bin die Vorsitzende dieses Beirates. Vor 50 Jahren war ich noch nicht dabei, aber ich erinnere mich an diverse Umbauten, die in der Bauernfeldgasse, der Adresse des Elternheimes bis 2009, das Haus immer wohnlicher und moderner machten. Leider waren diese Versuche nicht ausreichend, und so wurde ein neues MZ im Campus der IKG in der Simon-Wiesenthal-Gasse erbaut. Eine begehbare Brücke zur Zwi-Perez-ChajesSchule symbolisiert die Nähe zwischen den Kindern, Eltern und Großeltern. Die Anna-Kohn-FeuermannTagesstätte bietet Menschen, die nur tagsüber Betreuung suchen, die Möglichkeit dazu. Zusätzlich zu den über 200 Betten im Elternheim bewirtschaftet das MZ auch eine Residenz mit 40 Wohneinheiten.

 

ESRA feiert heuer sein 30-jähriges Bestehen. Was bewog die Gründergeneration – Alexander Friedmann, Elvira Glück und David Vyssoki – dazu, hier aktiv zu werden?

Dwora Stein: Die Gründung von ESRA schaffte einen lange benötigten, geschützten Ort der umfassenden Unterstützung für Überlebende der NS-Verfolgung, deren Nachkommen und Angehörige. Mit ESRA entstand 1994 eine Einrichtung, die erstmals spezialisierte, professionelle Beratung, Betreuung und Behandlung anbot. Zudem etablierte sich ESRA als Psychosoziales Zentrum für die jüdische Bevölkerung in Wien und darüber hinaus.

 

Was war das Neue und Revolutionäre am Konzept von ESRA?

Dwora Stein: ESRA führte ein innovatives Modell ein, das eine einzigartige multiprofessionelle medizinische, therapeutische und soziale Versorgung unter einem Dach vereint – für Überlebende der NSVerfolgung, ihre Nachkommen und Angehörige, für in Wien lebende Menschen, vorwiegend der jüdischen Bevölkerung, für Betroffene von antisemitischen Vorfällen sowie für Menschen aus Krisen- und Kriegsgebieten. Das Konzept war einzigartig und erfüllt seither einen dringend benötigten Versorgungsbedarf auf höchstem Niveau.

 

Was bietet wiederum das MZ seinen Bewohnern und Bewohnerinnen, was sie sonst nirgends finden?

Judith Adler: Unser Motto „Wo Menschlichkeit zu Hause ist“ leitet unseren Alltag. Jedes Lächeln freut uns, und wir tragen mit vielen Aktivitäten, Veranstaltungen, aber vor allem mit ausgezeichneter Pflege und medizinischem Einsatz dazu bei. Ja, das MZ verfügt über eine hausinterne ärztliche Versorgung!

 

Das Psychosoziale Zentrum ESRA
Seit seiner Gründung im Jahr 1994 entwickelte sich ESRA zu einer Institution mit mehr als 80 Fachkräften, die jährlich über 3.000 Hilfesuchende betreut. Die Einrichtung, entstanden durch die Kooperation zwischen der Israelitischen Kultusgemeinde Wien und der Stadt Wien, dient als Anlaufstelle für Menschen aller Altersgruppen und deren Familien bei psychosozialen
Herausforderungen. Neben der direkten Krisenintervention liegt der Fokus auch auf präventiver Gesundheitsförderung und der nachhaltigen Verbesserung der sozialen Lebensbedingungen der Klient:innen und Patient:innen. esra.at

 

Was macht das MZ vor allem – abseits des koscheren Essens und des Begehens der Feiertage – zu einer Einrichtung mit jüdischer Neschume?

Judith Adler: Im MZ leben wir nach dem Psalm 71.9, „al tashlikheni le’et zikna“, „wirf mich nicht weg, wenn ich alt werde“. Das ist unsere Hauptaufgabe: für den betagten Menschen DA zu sein! Zusätzlich zu den Feiertagen begehen wir jeden Freitag und Samstag den Schabbat mit Gebeten und Festessen. Alle können daran teilnehmen, und Gäste sind willkommen.
Direktor Micha Kaufman versteht es, mit seinem Team eine Wohlfühlatmosphäre zu schaffen. Es wird ein altersgerechtes „Zuhause“ mit interessantem Tagesablauf und gutem Essen geboten. Kulturprogramme, Jausen, Bingo usw. runden das Angebot ab. Die Welt kommt zu uns, zum Beispiel erfreuen uns die Kinder der Schule zu den Feiertagen. Es ist uns ein Herzensanliegen, dass unsere Heimbewohner:innen Lebensfreude und -qualität erleben.

 

Wohin hat sich ESRA in diesen 30 Jahren entwickelt. Wie sieht das Angebot heute aus?

Dwora Stein: ESRA hat sich von einem Psychosozialen Zentrum für Überlebende der NS-Verfolgung (ESRA 1.0) zu einem Traumakompetenzzentrum vor allem für geflüchtete Menschen entwickelt (ESRA 2.0). Heute ist ESRA ein Psychosoziales Gesundheitszentrum (ESRA 3.0), das jedes Jahr über 3.000 Personen – vom Kleinkind bis ins hohe Lebensalter – berät, betreut und behandelt. Vor 30 Jahren waren es vier Mitarbeiter:innen. Heute sind es über 85 Ärzt:innen, Pfleger:innen, Sozialarbeiter:innen, Psycholog:innen, Psychotherapeut:innen, administrative Kolleg:innen, Zivildiener, Praktikant:innen sowie ehrenamtliche Mitarbeiter:innen, die jeden Tag aufs Neue beweisen, was es heißt, in schwierigen Zeiten Hilfe zu leisten.

 

© Ouriel Morgensztern

„Gerade angesichts der

schwierigen Zeiten wünsche
ich mir, dass […] ESRA weiterhin ein Ort der Hoffnung
und
Heilung bleiben kann.

Dwora Stein

 

 

 

 

Die vergangenen Jahre haben gesamtgesellschaftlich große Herausforderungen gestellt: Covid-Pandemie, Energiekrise, Inflation, Ukrainekrieg, der Überfall der Hamas auf Israel und in der Folge ein inzwischen mehr als ein Jahr währender Krieg in der Region. Wie haben sich diese Ereignisse auf die Arbeit von MZ und ESRA, aber vor allem auf die betreuten Menschen ausgewirkt?

Dwora Stein: Die letzten Jahre haben enorme zusätzliche Anforderungen an die Arbeit von ESRA gestellt. Die Herausforderungen haben den psychosozialen Versorgungsbedarf stark erhöht – nicht nur bei den Hilfesuchenden, sondern auch bei den Hilfeleistenden. Vor allem die letzten beiden Jahre seit Beginn des schrecklichen Ukrainekriegs und seit dem schrecklichen Terrorangriff auf Israel am 7. Oktober 2023 haben Spuren hinterlassen und uns alle tief getroffen. Genau in diesen schwierigen Zeiten zeigt sich, wie wichtig unsere Arbeit bei ESRA ist. ESRA ist ein unverzichtbarer Anker für viele, was vor allem dem engagierten Einsatz des gesamten Teams zu verdanken ist.

Judith Adler: Die Auswirklungen waren und sind sehr unterschiedlich. An manchen geht und ging es einfach vorbei, aber viele Menschen haben auch bei uns im Elternheim ihr Verhalten geändert. Sie sind besonnener und zurückgezogener als zuvor. Die größte Herausforderung besteht allerdings immer für die Mitarbeiter:innen, und ihnen gilt unsere große Anerkennung und Dankbarkeit. Der Krieg in Israel beschäftigt viele, und die große Angst vor einer Wiederholung der Geschehnisse ist steter Begleiter derer, die Schlimmes erlebt haben.

 

„Im MZ leben wir nach dem Psalm 71.9: al tashlikheni
le’et
zikna – wirf mich nicht weg, wenn ich alt werde.
Das ist
unsere Hauptaufgabe.“
Judith Adler

 

Bei der Betreuung von zum Beispiel betagten Shoah-Überlebenden im MZ waren in der Vergangenheit auch ESRA-Experten und -Expertinnen gefragt, die mit dem Thema Trauma vertraut sind. Wie sieht heute die Zusammenarbeit zwischen den beiden Institutionen aus?

Judith Adler: ESRA ist uns in schwierigen Zeiten stets zur Seite gestanden. Auch bei herausfordernden persönlichen Schicksalen der Heimbewohner:innen und Angehörigen. Gerade jetzt ist die psychische Betreuung von besonderer Wichtigkeit. ESRA ist für diese Aufgabe der beste Partner!

Dwora Stein: Seit 1999 unterstützt ein von ESRA etablierter Konsiliar-/Liaison-Dienst (CL-Dienst) die Betreuung im MZ. Das ESRA-CL-Team besteht aus Fachärzt:innen für Psychiatrie und Neurologie, diplomierten psychiatrischen Pflegepersonen sowie Psychotherapeut:innen. Es unterstützt nicht nur die psychosoziale Betreuung der Bewohner:innen, sondern auch deren Angehörige und die Mitarbeiter:innen des MZ. Darüber hinaus ist das Team auch eine wichtige Schnittstelle in der Begleitung beim Übergang vom Leben zu Hause ins Leben im MZ. Weiters besteht eine enge Zusammenarbeit zwischen dem ESRA-Senioren-Club Schelanu und der Tagesstätte im Maimonides-Zentrum.

 

Was konnten die beiden Einrichtungen dabei auch voneinander lernen?

Dwora Stein: Durch die unmittelbare Zusammenarbeit vor Ort und die stete ineinandergreifende Kommunikation auf der Ebene des ESRA-CL- und des MZ-Teams, auf der Ebene des Club Schelanu und der Tagesstätte sowie auf der Ebene der Geschäftsführung beider Häuser kann diese einzigartige ambulante, mobile und stationäre gerontopsychiatrische Versorgung aller jüdischen und nicht-jüdischen Bewohner:innen, deren Angehörigen und Betreuenden gewährleistet und laufend weiterentwickelt werden.
Judith Adler: Jede:r von uns hat ihre bzw. seine Expertise. Bei der Verarbeitung und Bewältigung unangenehmer, schmerzhafter Nachrichten brauchen wir ESRA besonders. Wir sollten einander ergänzen und miteinander die Themen meistern.

 

Wo liegen die aktuellen und künftigen Herausforderungen des MZ?

Judith Adler: Leider ist heutzutage die finanzielle Hürde eine besonders schwer zu nehmende. Alles wird, auch in der Altenpflege, immer teurer, und um ein Haus mit hoher Qualität zu bleiben, ist Sparen keine Alternative.

 

Und wie sieht das bei ESRA aus?

Dwora Stein: Die psychosozialen Versorgungsbedarfe sind so hoch wie nie. Diese ergeben sich aus den Folgen der Corona-Pandemie, des Ukrainekriegs, der Terrorangriffe auf Israel/Nahost-Konflikt, von Teuerung/Rezession sowie des wachsenden Antisemitismus. Die Entwicklungen führen oft zu Retraumatisierung und Verstärkung bestehender beziehungsweise Verursachung neuer psychischer, körperlicher und sozialer Leiden bei immer mehr Menschen, die bei ESRA Hilfe suchen: bei Überlebenden der NS-Verfolgung, ihren Nachkommen und Angehörigen, bei Wienerinnen und Wienern mit jüdischem Bezug, bei geflüchteten Menschen, bei Antisemitismus-Betroffenen sowie bei Kindern und Jugendlichen, Frauen und älteren Menschen (vor allem gerontopsychiatrische stationäre Versorgung und mobile Pflege zu Hause/Community Nursing). Auch die gestiegenen Sicherheitsanforderungen für Einrichtungen mit jüdischem Bezug sind eine zunehmende Herausforderung.

Was wünschen Sie sich für Ihr jeweiliges Haus?

Dwora Stein: Als Obfrau von ESRA wünsche ich mir, dass ESRA auch in den nächsten 30 Jahren und darüber hinaus allen Menschen helfen kann, die Hilfe brauchen und sie in ESRA suchen. Gerade angesichts der schwierigen Zeiten wünsche ich mir, dass die Stadt Wien (FSW), ÖGK und alle anderen Fördergeber ESRA weiterhin so tatkräftig unterstützen, wie vor und seit 30 Jahren, damit ESRA weiterhin ein Ort der Hoffnung und Heilung bleiben kann.
Judith Adler: Kraft und Geduld für unsere Mitarbeiter:innen, Unterstützung durch die IKG und Zufriedenheit der Heimbewohner:innen sowie Angehörigen. Die Auslastung unseres Hauses möge weiterhin gegen 100 Prozent bleiben.

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