WINA: Wie war es für dich als junges Mädchen aus Ungarn nach Österreich zu kommen?
Zsófia Heiman: Ich bin in einer jüdischen Familie in Budapest aufgewachsen, die trotz Kommunismus die Traditionen leben konnte. Als wir 1990 nach Österreich kamen – mein Vater hatte ein sehr gutes Job-Angebot – hatte ich den Eindruck, dass Religion in gewissem Sinn in der Schule eine Rolle spielt. Das war in Ungarn kein Thema. Trotzdem ist es weder meinen Eltern, noch mir in Wien gelungen, jüdische Gesellschaft zu haben. In dieser Zeit fuhren meine Eltern und ich jedes Wochenende nach Budapest, wo ich viele jüdische Freunde hatte. Es gab in Budapest eine pulsierende jüdische Gemeinschaft.
Wie war deine Schulerfahrung?
I Die Integration in eine österreichische Schulklasse war für mich eine ganz neue Erfahrung. Am ersten Schultag kam ich mit einem blauen Faltenrock und einer weißen Bluse und unrasierten Beinen in die Klasse, während meine Mitschülerinnen zerrissene Jeans und Shorts trugen. Aber ich habe meine Garderobe schnell angepasst und meine Beine waren auch sehr bald glatt.
Warum hast du dich für ein Biotechnologie-Studium entschieden?
I Meine Eltern sind beide Chemiker, und mich hat dieser Wissenschaftszweig immer schon sehr interessiert. Ich bin eine begeisterte Biotechnologin und habe mich auf Medikamentenentwicklung der Pharmaindustrie spezialisiert.
Wie kam es, dass du nach Graz übersiedelt bist?
I Aus beruflichen Gründen. Ich habe in Graz eine Familie gegründet und mein Sohn Paul wurde 2009 geboren. Als er in die Volksschule ging, habe ich auch hier festgestellt, dass die jüdische Kultur unsichtbar ist. Sie spielt einfach keine Rolle in Österreich, obwohl die Geschichte dieses Landes seit Jahrhunderten durch jüdische Kultur geprägt wurde. Ich habe sogar das Gefühl, dass Vieles mittlerweile verschwunden ist. Ich wollte, dass sich daran etwas ändert, weil ich glaube, dass Juden heute neue Dialoge initiieren sollten. Wenn man nicht sichtbar ist, kann man auch nicht verstanden werden.
Wie hast du diese Beobachtung umgesetzt?
I Der Anfang meiner Vorträge war eigentlich sehr klein und ist aufgrund der Fragen meines Sohnes entstanden. Ich habe die Religionslehrerin in der Volksschule meines Sohnes darauf angesprochen, ob sie Interesse hätte, einmal etwas anderes als katholische Kultur zu vermitteln. Sie war hellauf begeistert von der Idee, den Schülern jüdische Kultur zu präsentieren und hat mich eingeladen eine Ethikstunde zu gestalten. Es ging darin um die Feiertage und Feste und über die jüdischen Werte. All das habe ich in Bezug zur christlichen Kultur gestellt, weil das der Punkt ist, wo wir mit der Mehrheitsgesellschaft in Österreich in Dialog treten können. Als mein Sohn ins Gymnasium kam, wurde ich eingeladen, in der Geschichtsstunde Vorträge zur jüdischen Kultur zu halten. Ich weitete die Vorträge dann um meine Familiengeschichte aus. Heute ist vor allem die Geschichte meines Großvaters, Paul Heiman, das zentrale Thema. Durch meine Aufarbeitung der Familiengeschichte hatte ich plötzlich einen Familienstammbaum vor mir, auf dem ich gesehen habe, dass es diesen Zweig nicht mehr gibt, jener Zweig ausgestorben ist und nur ganz wenige Verwandte die Shoa überlebt hatten. Ich habe erkannt, dass meine Familiengeschichte eine ganz typische jüdische Biografie ist, und dass das für die Jugendlichen von heute eine berührende Geschichte sein muss, weil es jeden treffen kann. Da die Shoa einmal passiert ist, haben die Menschen empirisch bewiesen, dass es möglich ist, und dass Dynamiken dahinter verstanden werden müssen, damit sich die Geschichte nicht wiederholt.
Du gehst auch in Schulen, wo es einen großen Anteil muslimischer Schüler gibt. Was erlebst du dort?
I Es ist eine große Bandbreite an Reaktionen. Da gibt es die absolute Ablehnung, wie junge Männer, die mit verschränkten Armen und gesenktem Blick störrisch dasitzen, wo man alle Hände voll zu tun hat, sie zur Partizipation zu bewegen. Aber interessanterweise ist es selbst hier manchmal möglich in Dialog zu kommen. Es wäre aber vermessen zu sagen, dass wir jeden erreichen können. Was ich aber sehr wohl sehe ist, dass die durchschnittlichen Schüler sehr viel von diesen Vorträgen profitieren, weil sie oft erstmals in Berührung mit einem jüdischen Menschen kommen und Informationen über die jüdische Perspektive erhalten.
Welche Fragen stellen die Schüler?
I Ich mag Fragen, die aus persönlichem Interesse gestellt werden. Fragen, die das, was sie gehört haben, auf ihr Leben ummünzen und sich dann Gedanken machen, wie sie damit umgehen würden. Oft verstehen Schüler die Shoa und Deportationen besser, wenn die Zahl der Menschen, die umgebracht wurden, in Relation zu ihrer unmittelbaren Umgebung gesetzt wird. Wenn Schüler verstehen, wie oft z.B. die Bevölkerung der Ortschaft, in der sie leben, ausgelöscht wurde, ist die Betroffenheit sichtbar. Wenn sie begreifen und spüren, was es bedeutet hat, dass es unmöglich war in den Fußballverein zu gehen, weil es diskriminierende Vorschriften und Repressalien gegeben hat, dann weiß ich, dass durch den Vortrag eine Berührung stattgefunden hat und Empathie generiert wurde.
„Wenn man nicht sichtbar
ist, kann man auch nicht
verstanden werden.“
Zsófia Heiman
Was war die unangenehmste Frage?
I Unangenehme Fragen gehen in die antisemitische Richtung. Ein elfjähriger Junge hat einmal sehr provokant gesagt: „Stellen wir uns vor, ich schnippe mit den Fingern, und es gibt keine Juden mehr, und es gab sie nie. Ist dann endlich Frieden auf der Welt?“ So eine Frage, hinter der auch ein Gedankenspiel steckt, erschreckt mich. Ich frage mich dann: Wie kommt ein so junger Mensch zu so einer Frage. Der Elfjährige hatte keinen muslimischen Migrationshintergrund.
Wie war deine Reaktion?
I Ich musste erst durchatmen und mir gut überlegen, wie ich darauf reagieren kann. In diesem Fall habe ich dem Jungen als erstes gesagt, dass seine Frage zutiefst antisemitisch ist und habe versucht ihm zu vermitteln, dass es das jüdische Volk viel länger gibt, als dass er nur mit dem Finger schnippen könnte, und er all das, was von jüdischen Menschen je geschaffen wurde, einfach auslöschen könnte. Seine Reaktion war, dass er davon nicht abließ. Ich wollte aber den Workshop in diesem Moment nicht von so einem Schüler torpedieren lassen. Die Lehrerin hat nicht unmittelbar eingegriffen. Nach dem Vortrag habe ich um ein klärendes Gespräch mit dem Schüler im Beisein seiner Eltern und der Lehrerin gebeten. Allerdings fand dieses Gespräch zwar statt, aber ohne mich. Soll mir auch recht sein. Ich möchte nur solche Aussagen nicht unkommentiert stehen lassen, denn so etwas gehört „beantwortet“ und verarbeitet.
Du zeigst bei deinen Vorträgen auch Artefakte….
I Ja, der Familienfundus. Ein besonderes Stück ist ganz bestimmt das handschriftliche Manuskript meines Großvaters, in dem er die Familiengeschichte aufgeschrieben hat. Paul Heiman war Jahrgang 1914, hat wie viele Schoa-Überlebende nie über diese Zeit mit mir gesprochen, obwohl ich ihm sehr viele Fragen gestellt habe. In den 1990erJahren hat er aber dann doch seine Geschichte aufgeschrieben, und als Widmung steht „für mein Zsófichen“. Ich glaube, es ist etwas Besonderes, wenn man Gegenstände oder Schriftstücke von jemandem sieht, der diese Zeit miterlebt hat.
Ein Artefakt ist auch ein Reisewecker. Was hat es damit auf sich?
I Mein Großvater ist viel gereist, und dieser Wecker hat ihn immer begleitet. Für mich symbolisiert dieser Wecker, dass mein Großvater ein lebensfroher, weltoffener und reisefreudiger Mensch war.