„Zeichen an der Wand nicht ignorieren“

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Der frühere Bundeskanzler Franz Vranitzky bleibt dem Iran gegenüber skeptisch, kritisiert die europäische Uneinigkeit in wichtigen Bereichen und warnt im Gespräch mit Marta S. Halpert vor dem Kleinreden des Antisemitismus.

WINA: Wenn Sie sich die Weltlage heute anschauen, wären Sie noch gerne in einer politischen Funktion?

Franz Vranitzky: Nein, weil meine Zeit abgelaufen ist. Der Eifer, den man für eine politische Funktion hat, darf sich ja nicht danach richten, wie die Problemlage ist. Denn das würde dazu führen, dass man Politiker nur dann gewinnt, wenn die Sonne scheint – und das ist nicht so häufig.

„Die Gründerväter von 1958 wären wahrscheinlich entsetzt, würden sie ihr Europa heute sehen.“

Welcher Konflikt gefährdet Ihrer Meinung nach den Weltfrieden – sofern man noch überhaupt von einem Frieden sprechen kann?

❙ Wir haben seit fast einem Jahrzehnt eine sehr dichte Gemengelage, die uns weltweit beschäftigt und in Spannung hält. Das begann sicher mit der Finanzkrise 2008 in den USA, und die Lage hat sich bis heute nicht beruhigt, sondern ist eher schwieriger geworden. Die Vorgänge im Mittleren Osten tragen dazu bei, verschärft durch den arabischen Winter und in weiterer Folge durch den Verfall des Ölpreises mit allen seinen wirtschaftlichen, aber auch politischen Konsequenzen. Nicht zu vergessen: die Unfähigkeit der Europäischen Union, schon vor Jahren mit Russland ein arbeitsfähiges Verhältnis aufzubauen. Heute ist das alles sehr spät. Die große Schwäche der Weltwirtschaft mit sehr bescheidenen Wachstumsraten – auch in China finden sich keine Rekordwerte mehr – führt zum Erlahmen der Konjunktur und das wiederum zu hoher Arbeitslosigkeit. Und wenn diese große Arbeitslosigkeit dann noch mit den Flüchtlingsbewegungen zusammenstößt und auch die physische und soziale Sicherheit in Frage gestellt wird, dann sehen wir ein sehr unruhiges Bühnenbild. Ich fürchte, das wird nicht so schnell aufgeräumt werden können.

Wie hat Ihrer Meinung nach das vereinte Europa seine Hausaufgaben gemacht? Zufriedenstellend, oder hat es unter den Umständen versagt?

VranitzkyStopper4Engel❙ Die Gründerväter von 1958 wären wahrscheinlich entsetzt, würden sie ihr Europa heute sehen. Als Österreich 1995 beitrat, haben wir auch unter den Mitgliedsländern im Vergleich zu heute eine wesentlich stärkere und überzeugtere Einstellung zur Zusammenarbeit gehabt. Mit der Erweiterung auf 28 Staaten und einem Rückfall in nationales politisches Denken und Bewusstsein sieht die EU heute führungslos aus. Und Führungslosigkeit verführt immer zu Alleingängen an der Peripherie. Diese Alleingänge sind in vielfacher Hinsicht nicht nur auf wirtschaftlicher Ebene bedingt, sondern auch politisch vorhanden. Diesen Hang zum Alleingang kann man beispielsweise bei den Visegrád-Staaten (Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei) beobachten: Sie sprechen sich vor Ratssitzungen ab, um dann dort den Visegrád-Standpunkt zu vertreten und nicht notwendigerweise den europäischen. Daher kommen wirklich wichtige, tragende Beschlüsse der politischen Elite, also der Regierungschefs nur mehr als kleinster gemeinsamer Nenner zustande. Und der kleinste gemeinsame Nenner ist bekanntlich kein Ausdruck von Schlagkraft.

Wie beurteilen Sie die Führungsrolle von Angela Merkel – auch in der Flüchtlingsfrage? Sie hat ja zuerst spontan auf die katas­trophalen Zustände in Ungarn reagiert. Hätte sie später etwas verändern sollen?

❙ Man muss sich davor hüten, mit der Weisheit des Rückblicks große Forderungen zu stellen. Ich glaube eher, dass in einzelnen Mitgliedsstaaten das Prinzip der Solidarität mit den anderen unterentwickelt ist. Aufgrund dessen kommt es dann zu Handlungen, zu Maßnahmen, die in Wirklichkeit die europäische Union spalten. Denn es gibt ja auch in den Ländern, die solidarisch sind, Teile der Bevölkerung, die das unsolidarische Verhalten der Nachbarn als Vorbild sehen. Die sagen dann einfach: „Die verhalten sich richtig und wir falsch.“

Das hilft der Einigkeit in Europa kaum, oder?

❙ Im Gegenteil, das führt zu Spaltungen und zum Erstarken der rechtspopulistischen Randgruppen, die mittlerweile gar keine Randgruppen mehr, sondern schon ziemlich im Zentrum angesiedelt sind. Dafür gibt es ja genug Beispiele: Wenn wir aus Frankreich hören, dass Frau Le Pen der EU das gleiche Schicksal wie der Sowjetunion wünscht, nämlich das Auseinanderbrechen, dann muss man sich schon – wenn man über den Tag hi­nausdenkt – ehrlich besorgt die Frage stellen, wo geht Europa hin, sollte das politisches Allgemeingut werden. Europa ist ja nicht eine Spaßveranstaltung, weil denen, die pro-europäisch sind, nichts Besseres einfällt, sondern weil Europa in der Globalisierung ununterbrochen im Wettbewerb mit den anderen großen Playern steht, also mit den USA, mit Russland, China und Indien. Es ist vollkommen absurd und lächerlich, zu glauben oder es jemanden einreden zu wollen, dass ein Land wie Österreich mit acht Millionen alleine den großen Herausforderungen des Wettbewerbs standhalten kann. Hier bedarf es des Schulterschlusses und der Solidarität von uns Europäern insgesamt.

Wie beurteilen Sie das Verhältnis Europas zu Russland?

❙ Europa hätte schon vor Jahren ein auf Augenhöhe beruhendes Verhältnis des Vertrauens und der Kooperation mit Russland schaffen müssen. Und zwar gleich nachdem die Welt Gorbatschow zugejubelt hat, als er die Hegemonie der KP beendet hat. Vom lauten Jubel ist dann eigentlich nicht viel übrig geblieben. In der Zwischenzeit ist vieles passiert, so dass wir auch eine gewisse Distanz zu Russland aufgebaut haben: Natürlich können wir Gebietsannektierungen und Einflussnahmen auf bewaffnete Auseinandersetzungen in Drittländern nicht zustimmen. Aber ich glaube, man sollte aus Fehlern lernen und etwa auch überprüfen, ob die mehr oder weniger kritiklose Einstellung gegenüber der ukrainischen Politik in dieser Ausschließlichkeit richtig war.

Halten Sie die jüngsten „Pilgerreisen deutscher und österreichischer hochgestellter Handelsvertreter“ für richtig?

❙ Was die Reisediplomatie betrifft ist diese sicher nicht im Einklang mit der auf EU-Ebene getroffenen Abmachungen erfolgt. Will man aber dieser Reisediplomatie etwas abgewinnen, dann ist es vielleicht der nicht gerade nach den Regeln der Hochdip­lomatie abgelaufene Versuch, eine Patt-Situation aufzubrechen. Etwas muss man auch hinzufügen: Es ist ja nicht so, dass sich rasend viele Mitgliedsländer mit diesen Russland-Sanktionen identifizieren, es stand vielmehr ein gar nicht so kleiner Druck aus Washington dahinter. Natürlich sind die USA der große Partner der Europäer, dass sie aber weltpolitisch eigene Ziele verfolgen, liegt auf der Hand. Naivität sollte nicht europäischer Leitfaden sein.

Ist die Türkei für Europa ein verlässlicher Partner – derzeit und überhaupt?

❙ Ich hätte vor zehn Jahren gesagt, dass man sich die Anstrengung antun soll, die Türkei als Partner im europäischen Integrationsprozess zu gewinnen. Gemessen sowohl am wirtschaftlichen Potenzial als auch in Hinblick auf die geopolitische Lage – als Brücke zwischen Europa und Asien – und als ein nicht unwesentlicher Faktor in der islamischen Welt. Aber es ist viel Zeit vergangen, und es ist auch einiges passiert, daher darf man jetzt als europäischer Demokrat und Angehöriger eines europäischen Rechtsstaates schon auch Kritik üben, das heißt, man muss nicht und kann nicht mit allem einverstanden sein. Man hat mich auch noch nicht davon überzeugt, dass ich der Kurden-Politik Ankaras Beifall zollen muss. Jetzt sind wir gerade unter dem Einfluss des Syrien- und Irakkrieges schon sehr gespannt, ob die Türkei überhaupt als Partner zu gewinnen ist. Und ob wir uns darauf verlassen können, dass die Forderungen Erdogans an die EU erfüllbar und rational sind.

Wie schätzen Sie die US-Wahlen ein? Besteht die Gefahr der Schwächung des Westens durch skurrile Kandidaten?

❙ Noch wissen wir ja nicht, wer tatsächlich ins Weiße Haus einziehen wird. Als Europäer hege ich die Hoffnung, dass der nächste amerikanische Präsident oder die nächste Präsidentin jemand sein wird, bei dem man auch weltpolitisch und ideell ein gewisses Engagement erkennen kann. Und wo nicht das eintritt, was man einigen Kandidaten nachsagt, nämlich dass sie sich auf rein amerikanische Positionen zurückziehen, die mehr mit Religion, Rassismus, Xenophobie und Staatsverneinung zu tun haben.

Finden Sie Österreichs Weg in der Flüchtlingsthematik richtig? Welche Chancen hat eine nationalstaatliche Lösung?

❙ In einer so dynamischen Entwicklung, wie wir sie in den letzten Monaten erlebt haben, wird man fairer weise keine Grundsatzpositionen verlangen können, die vom ersten bis zum letzten Tag gleich sind. Man muss akzeptieren, dass die Bundesregierung doch innerhalb sehr kurzer Zeit vor vollkommen neue Situationen gestellt wurde. Auch bei aller Solidarität und Humanität gegenüber den Flüchtlingen muss man angesichts der Größe des Problems den handelnden Personen eine gewisse Flexibilität einräumen.

Also doch kein Wackelkurs?

❙ Vielleicht war das durch die Geschwindigkeit der Entwicklungen nicht zu vermeiden. Aber letztendlich ist man bei aller Offenheit und bei aller Hilfsbereitschaft auch in der Politik gezwungen, die Gefühle und Ängste sowie die nicht berechenbaren Reaktionen der eigenen Bevölkerung zu berücksichtigen.

Wir haben Viktor Orbán und seine Grenzzäune zu Recht verurteilt. Wir nennen unsere Abgrenzungen anders – „Leitsystem“ etc. Aber im Prinzip ist es dasselbe. Ist das eine Lösung für und in Europa?

❙ Die Sprache wird oft dazu eingesetzt, „Flexibilitäten“ nicht so deutlich erkennen zu lassen.

Sie wurden mit der bedeutenden goldenen B’nai-B’rith-Medaille für Ihr „Engagement bei der Aufarbeitung der Geschichte Österreichs seit 1945 und für die engen Beziehungen zur jüdischen Gemeinschaft“. Im langen Prozess der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit Österreichs war Ihre Rede vor dem Nationalrat am 8. Juli 1991 nicht nur bemerkenswert, sie brachte auch die Zäsur im Umgang der Republik mit dem Thema der NS-Zeit. Zwei Jahre später hielten sie im Rahmen einer Israelreise eine Rede an der Universität in Jerusalem, in der sie die Opfer des Nationalsozialismus im Namen der Republik um Verzeihung baten. Weltweit und in Europa gibt es einen Anstieg des Antisemitismus. Wird die Zuwanderung auch konservativer Muslime diesen Trend verschärfen, wie manche jüdische Bürger das befürchten?

❙ Es überrascht immer wieder, dass vieles, das als überwunden geglaubt wurde, unter neuen Bedingungen wieder entsteht. Wir wissen ja, dass bedauernswerter Weise der Antisemitismus selbst nach Auschwitz, nach der Schoa, nicht ausgerottet ist. Wenn nun auf Grund der aktuellen Entwicklungen extreme religiöse Positionen eingenommen werden, müssen wir uns in Erinnerung rufen, dass es einen muslimischen Staat gibt, der immer wieder an der Existenz des Staates Israel rüttelt. Vor zehn Jahren kannten wir noch nicht einmal den Ausdruck des „Hasspredigers“. Wenn die sozialen Netzwerke sich hervorragend dazu eignen, dass das alles viel rascher verbreitet wird, dann darf man diese Zeichen nicht ignorieren, nicht kleinreden. Dann muss man die Grundgesinnung derer stärken, die Antisemitismus, Diskriminierung und Rassismus kategorisch ablehnen. Diese Gruppen muss man unterstützen, denn Haltungen kommen nicht immer von selber, daran müssen alle glauben und alle auch mitarbeiten.

Trauen Sie dem Iran eine Wandlung zu?

❙ Man wird immer wieder Zeit investieren müssen. Als Beobachter aus Europa sind wir oft sehr angetan, wenn ein weniger orthodoxer Staatsführer im Iran erscheint. Wir müssen aber immer wieder feststellen, dass jene, die dann kooperative oder aus unserer Sicht vernünftige Verhaltensweisen an den Tag legen, von den hohen Religionsführern zurückgepfiffen werden. Aus meiner Sicht, die ja immer versucht, eine positive zu sein, male ich mir aus, dass auch dieser Zustand einmal zu einem Ende kommen kann. Aber wie oft hat man sich schon etwas ausgemalt – und es ist nicht oder sehr spät eingetroffen.

Wie geht die Bundespräsidentenwahl aus?

❙ Es ist noch zu früh, etwas zu sagen, ich könnte auch nur Umfragewerte zitieren. Aber mein Tipp steht heute ohnehin schon fest – wenig überraschend: Rudolf Hundstorfer.

Franz Vranitzky, 1937 in Wien geboren, absolvierte das Studium der Handelswissenschaften an der Wirtschaftsuniversität Wien und arbeitete zuerst in den Siemens-Schuckertwerken und von 1961 bis 1970 in der Österreichischen Nationalbank. 1970 bis 1976 fungierte er als wirtschaftspoli­tischer Berater im Finanzministerium; danach war er Generaldirektor der Creditanstalt und 1981 bis 1984 Generaldirektor der Österreichischen Länderbank.
Bundeskanzler Fred Sinowatz holte Vranitzky 1984 als Finanzminister in die SPÖ-FPÖ-Koalition; 1986 löste er Sinowatz als Bundeskanzler ab und beendete umgehend die Koalition mit der FPÖ, als Jörg Haider zum Bundesparteiobmann gewählt wurde. 1987 bis 1997 war Vranitzky Bundeskanzler einer großen SPÖ-ÖVP-Koalition sowie Bundesparteivorsitzender der SPÖ. Nach seinem Ausscheiden aus der Politik war er Konsulent der Westdeutschen Landesbank. 1993 erhielt er das Ehrendoktorat der Hebräischen Universität Jerusalem, 1995 den Aachener Karlspreis. Seit 2010 ist Franz Vranitzky Vize-Vorsitzender des InterAction Council, einer Denkfabrik früherer Staats- und Regierungschefs.

Bilder: © Reinhard Engel

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