Zeitreisen

Das Wissen um Vernichtung und Verfolgung, die Geräusche eines brüchigen Systems, aber auch die Bereitschaft zu Brüllen, wenn Unrecht geschieht – Momente einer Zeitreise.

433

Vielleicht erlaube ich mir eine kleine Zeitreise mit der geneigten Leserschaft. Nur ein kleiner Rückblick. A slip in time. Etwas, das das Getriebene vieler Menschen mit jüdischen Wurzeln verständlicher macht. Oder das Sicherheitsbedürfnis. Identitäten, die zu haben über Jahrhunderte gefährlich war, werden von Generation zu Generation weitergegeben. Das Wissen um die Vernichtung vererbt. Das Wissen um die Brüchigkeit der Zivilisation. Das Wissen darum, dass der Nachname, das Gesicht, der Anhänger um den Hals Gefahr bedeuten kann. Gehen wir also zurück in meiner ganz persönlichen Geschichte, überspringen wir den Schrecken der Vernichtung, die sich in Nazideutschland abspielt, jene Schrecken, die das Weitertragen des tiefen Traumas bedeuten, denen Bücher und Filme und Ausstellungen, die jüngste im Jüdischen Museum Wien, gewidmet wurden. Sehen wir uns die weitaus kleineren Schrecken an, die jedoch ebenfalls weitergegeben werden wie Familiensilber. Gehen wir also zurück, überspringen wir die Generation meines Vaters und meiner Mutter. Sehen wir noch weiter nach hinten. Mein Großvater, Jude in der Sowjetunion. Gewohnt, öffentlich jederzeit erniedrigt werden zu dürfen. Gewohnt, Gewalt zu erleben. Verbale. Aber es ist auch mehr als verbale Gewalt durchaus möglich. Die UdSSR hat den Sündenbock übernommen: Nun heißt man als Jude Kosmopolit. Das Vergehen ist aber noch immer das gleiche. Es lautet immer noch: Weltverschwörung. Machtbesessenheit. Geldgier. Geilheit. Christenkinder werden zwar nicht mehr geopfert,aber auch nur darum, weil es im Kommunismus keine mehr gibt. Man kann, wie meine Großmutter, Kraft ihres Namens von der Universität verwiesen werden, egal wie erfolgreich man studiert hat. Man kann, wie mein Großvater, auf einer – meiner Erinnerung der Familienerzählung nach verschneiten – Straße, auf der nur wenige Menschen unterwegs sind, einem Mann begegnen, dessen Ausdruck bei Annäherung finsterer und finsterer wird, schon sieht er argwöhnisch und forschend ins Gesicht meines Großvaters, schon ballen sich die Fäuste, schon öffnet sich der Mund, aus dem Nebelwölkchen in der eisigen Kälte des russischen Winters entweichen. Der Mund öffnet sich, um ihn zu beschimpfen, sie bewegen sich immer noch aufeinander zu, was wird geschehen, sobald beide auf der gleichen Höhe der Straße angelangt sind… Da macht mein Großvater einen großen Ausfallschritt auf seinen Kontrahenten zu und brüllt mit der gröbsten Stimme, zu der er fähig ist: „Geh zur Seite, du Judenschwein!“. Diese Umkehrung der Situation überrumpelt den anderen vollständig, entwaffnet ihn auf der Stelle, artig weicht er meinem Großvater aus und trollt sich tatsächlich, plötzlich maulfaul geworden, das Momentum rettet meinen Großvater. Mein Großvater sieht ihm zitternd zu, bis er ums Eck verschwindet. Diese Gefahr ist im Augenblick gebannt. Diese eine Gefahr. In diesem Augenblick. Vermutlich liegen hier die Wurzeln der frechen Brüllbereitschaft vergraben, die mich so oft lieber zu Attacke übergehen ließ, als mich in die gefährliche Situation zu ergeben. Den vererbten Schrecken werde ich als Erinnerung mit mir tragen. Die vererbte rettende Großmäuligkeit aber ebenfalls.

HINTERLASSEN SIE EINE ANTWORT

Please enter your comment!
Please enter your name here