Zeitzeugen gehen, doch ihre Zeugnisse bleiben

Die Schau Ende der Zeitzeugenschaft?, eine Ausstellung des Jüdischen Museums Hohenems und der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, wurde nun für das Haus der Geschichte Österreich adaptiert und ist dort bis 3. September zu sehen. Verbringen kann man hier angesichts des umfangreichen Filmmaterials, das gesichtet werden kann, viele Stunden – und dabei eintauchen in die vielen verschiedenen Perspektiven, die diese Zeugnisse bieten. So wird auch ein Horizont für die Zukunft eröffnet – dann nämlich, wenn keine Shoah-Überlebenden mehr da sind, um zu erzählen, und die von ihnen hinterlassenen Zeugnisse der einzige Zugang zur NS-Vergangenheit für künftige Generationen sein werden.

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© Lorenz Paulus / hdg

Zeitzeugenschaft ist mehr als nur der Erzählende, es ist der ganze Prozess vom Moment, an dem man sich entscheidet, ein Interview zu geben, bis hin zu allen Protagonisten, die beteiligt sind: der Kameramann, die Lichtfrau, die Technik, die dahinter stattfindet, die Fragende, das Setting, in dem das Gespräch stattfindet“, betonte Kuratorin Anika Reichwald bei der Präsentation der Wiener Fassung der Schau. Bei inzwischen ikonischen Ausschnitten aus Filmdokumentationen seien zudem oft nur wenige Minuten eines über Stunden oder sogar Tage geführten Interviews veröffentlicht worden. „Diese kurzen, kuratierten, wunderschön zusammengestellten Ausschnitte sind eben oftmals nur ein kleiner Teil eines Interviews.“

ENDE DER ZEITZEUGENSCHAFT?
Ausstellung des Jüdischen Museums
Hohenems und der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg in Zusammenarbeit mit dem Hauses der Geschichte Österreich
bis 3. September 2023
hdgoe.at

In der Ausstellung sind bei an Archivplätze erinnernden Stationen daher sowohl diese kurzen Sager wie auch das Originalmaterial zu sehen und zu hören. So bekomme der Besucher ein Gespür dafür, dass es in solchen Gesprächen auch zu Pausen, zu emotionalen Momenten oder einfach zu Alltagsszenen, etwa, wenn Kaffee eingeschenkt wird, komme, so Reichwald. Klar werde dabei auch: Es gibt nicht die eine Holocaust-Erzählung, dazu hätten die Überlebenden auch zu unterschiedliche biografische Hintergründe. „Wir versuchen in der Ausstellung einen Querschnitt von verschiedenen Erzählmodi zu zeigen.“ Das reiche vom moralischen Appell über das emotionale Erzählen aus einem Schlüsselerlebnis heraus bis zum Darstellen einer Erfolgsgeschichte.

Verändert haben sich über die Jahrzehnte aber auch die Fragen an die Zeitzeugen – und die Erwartung an das, was sie erzählen (sollten) beziehungsweise ihre Funktion. Zunächst waren sie gegen Ende des Zweiten Weltkrieges sowie in den Gerichtsprozessen in den Nachkriegsjahrzehnten vor allem eines: Augenzeugen.

Woran Hanno Loewy, Direktor des Jüdischen Museums Hohenems, in diesem Kontext auch erinnert: Juden und Jüdinnen als Zeugen in Prozessen wurde alles andere als zimperlich begegnet. Medial wurde ihnen vorgeworfen, auf Rache aus zu sein und damit der Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen angezweifelt. Nicht umsonst betitelte Simon Wiesenthal seine bereits nach Kriegsende notierten, aber erst 1988 veröffentlichten Erinnerungen an die NSZeit mit Recht, nicht Rache. Ab den 1980erJahren änderte sich dann die Rolle der Zeitzeugen: Sie sollten durch ihr Erzählen vor allem der Jugend vermitteln, wovor es sich aktuell und in der Zukunft zu hüten gelte. Das jemanden zur Verantwortung Ziehen war dem Erinnern und dem „Niemals wieder“ gewichen.

 

„Jeder von uns schaut auf die
Geschichte mit dem Blick der jeweiligen Gegenwart und dem,
was uns gerade unter den Nägeln brennt.“
Hanno Loewy

 

Bereinigte Begegnungen. 1953 war die Shoah-Überlebende Hanna Bloch Kohner zu Gast im US-TV-Format This is Your Life, in dem Publikumsgäste auf die Bühne gebeten wurden und dann überraschend auf Menschen trafen, die bereits einmal ihren Lebensweg gekreuzt hatten. Aus der heutigen Perspektive sind Zeitzeugen und Zeitzeuginnen alte Menschen. Kohner war damals aber eine junge Frau, fürs Fernsehen dem Zeitgeist entsprechend adrett zurechtgemacht – man sah ihr nicht an, dass sie sowohl das KZ Auschwitz wie auch das KZ Mauthausen überlebt hatte.

Im TV-Show-Pathos der damaligen Zeit fällt sie einem früheren US-Soldaten um den Hals, der zu den Mauthausen-Befreiern zählte. „Ich hätte Sie nicht mehr erkannt“, sagte sie danach. Dass Kohner zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere Fehlgeburten hinter sich hatte, vermutlich Folge einer im Rückblick lebensrettenden Abtreibung im KZ Auschwitz, durfte im USFernsehen der 1950er-Jahre nicht thematisiert werden, erzählt Hanno Loewy.

Der kurze Ausschnitt dieses Fernsehauftritts illustriert eindrucksvoll, wie sich der Blick auf Zeitzeugen und Zeitzeuginnen über die Jahrzehnte verändert hat. Die Leidensgeschichten von Juden und Jüdinnen etwa begannen erst nach der Veröffentlichung des Tagebuches von Anne Frank breitere Gruppen von Menschen zu interessieren, weiß Loewy, wobei das Tagebuch selbst erst in seiner dritten Ausgabe, die auch Passagen enthielt, die zuvor noch nicht veröffentlicht worden waren, in den 1950er-Jahren zum weltumspannenden Erfolg wurden, worauf Verfilmungen und Theateradaptionen des Stoffes folgten.

Wie Zeitzeugen in Zukunft begegnen? Die Ausstellung liefert zahlreiche Zugänge zu dieser Frage. © Lorenz Paulus / hdg

Erst kürzlich erschien ein neuer Streifen zu dem Thema: Regisseur Ari Folman legte mit Wo ist Anne Frank einen Zeichentrickfilm für Kinder vor, der die Geschichte aus heutiger Perspektive erzählt. Ein Mädchen macht sich dabei auf die Suche nach Kitty, eine der fiktiven Personen, an die Anne Frank ihre Tagebucheinträge richtete. Gleichzeitig setzt sie sich für Geflüchtete ein, die ohne legalen Aufenthaltsstatus in den Niederlanden leben. „Der Film beschäftigt sich mit den Zusammenhängen zwischen Anne Franks Geschichte und dem Flüchtlingsdrama heute“, sagt dazu Loewy. Und betont: „Jeder von uns schaut auf die Geschichte mit dem Blick der jeweiligen Gegenwart und dem, was uns gerade unter den Nägeln brennt.“

Es waren übrigens immer wieder Spielfilme, die den gesellschaftlichen Blick auf Zeitzeugen, aber auch die Fragen von Historikern und Journalisten an sie, veränderten. In der Ausstellung zu sehen sind hier etwa Ausschnitte aus der legendären TV-Serie Holocaust sowie Steven Spielbergs Film Schindlers Liste. Aufgegriffen werden in der Schau aber auch die Schattenseiten der Popularität von Zeitzeugen: Da ist etwa der Fall des Schweizers Bruno Dösseker, der 1995 als Binjamin Wilkomirski unter dem Titel Bruchstücke seine vermeintlichen Kindheitserinnerungen an die NS-Zeit in Lettland und anderen Ländern im Jüdischen Verlag (SuhrkampGruppe) veröffentlichte und in der Folge als Zeitzeuge auftrat. Es dauerte Jahre, bis aufgedeckt wurde, dass es sich dabei um erfundene Erzählungen handelte, wobei angemerkt wurde, dass seine Psyche ihm falsche Erinnerungen vorgegaukelt haben könnte.

Produktion von und Umgang mit Zeitzeugnissen. Gegliedert ist die Schau in drei Teile, erläutert Reichwald: Da ist zum einen eben der Blick hinter die Kulissen, wie Zeitzeugeninterviews entstehen. Da ist zum anderen der historische Bogen, der zeigt, wie sich die Machart von solchen Interviews verändert hat. Der dritte Teil befasst sich mit dem Umgang von Institutionen wie eben Museen mit diesen Zeitzeugnissen. In Wien hat man für diesen Teil Filmmaterial mit Personen herausgesucht, die eine Beziehung zu Österreich haben oder hatten, weil sie in Österreich geboren wurden oder als Displaced Persons nach Österreich kamen. Ihre Erzählungen sind in dem Raum zu hören, von dem aus man jenen berühmten Balkon betritt, auf dem 1938 Adolf Hitler seine Rede an die zahlreich am Heldenplatz versammelten Menschen hielt, wie Monika Sommer, Direktorin des Hauses der Geschichte Österreichs, betont.

 

„Wir versuchen in der Ausstellung
einen Querschnitt von verschiedenen Erzählmodi zu zeigen.“
Anika Reichwald

 

Was sich beim Besuch der Schau verdeutlicht: All diese Zeugnisse werden auch künftigen Generationen zur Verfügung stehen. Der Blick auf sie wird aus der jeweiligen Gegenwart heraus allerdings jeweils wieder ein neuer sein. Versuchen, Zeitzeugen sozusagen unsterblich zu machen, indem man Hologramme von ihnen anfertigt, konnten die Ausstellungsmacher und -macherinnen Reichwald, Loewy und Sommer nur wenig abgewinnen. „Das Spannende mit Blick auf die letzten Jahre für mich ist, dass so viel Aufheben um sie gemacht wurde“, meint etwa Reichwald. Sie sieht hier den Wunsch, die emotionale Atmosphäre um die Zeitzeugen und Zeitzeuginnen herum festzuhalten. Letztendlich würde das aber nicht funktionieren.

Der Fotograf Éric Schwab mit seiner Kamera. Selbstporträt aus dem Jahr 1945, in dem er in Europa zu den ersten Dokumentaristen der NS-Gräuel wurde. © Éric Schwab (Selbstporträt), 1945; Mikael Levin, New York

Warum? Loewy führt hier mehrere Argumente ins Treffen. Zum einen handle es sich um eine sehr teure Technologie, die Ressourcen binde. Erreicht werde damit, „dass Menschen an ein Trugbild Fragen stellen können. Und dieses Trugbild antwortet in ganz kurzen Sätzen.“ Die Zeitzeugen, die noch dazu nur einen kleinen Teil der Überlebenden repräsentieren, nämlich die child survivors, würden dazu in einen Globus hineingesetzt, seien darin mit über 100 Kameras konfrontiert und müssten an die 1.000 Fragen mit jeweils nur drei Sätzen beantworten. Der Algorithmus suche dann für die Besucher die jeweils passendsten Antworten auf die gestellten Fragen heraus. „Mit lebendiger Erinnerung hat das wenig zu tun, mit Kommunikation eigentlich gar nichts“, erklärt Loewy. „Aber es ist ein Mythos. Es produziert nämlich die Unsterblichkeit der Überlebenden.“

Mehr Zukunft sieht er für Projekte, die es bereits gebe und in denen Menschen über ihre Begegnungen mit Überlebenden erzählen. „Da wird ein kommunikativer Prozess aufgemacht, der transparent ist. Aber ich glaube, dass wir uns alle damit abfinden müssen, dass wir endlich sind. Das gilt auch für die Überlebenden“, erläutert der Direktor des Jüdischen Museums Hohenems. Und Reichwald meint: „Die Frage ist, wenn Zeitzeugen nicht mehr zur Verfügung stehen, inwiefern dann auch diese emotionale Komponente herausgenommen wird und wie wir dann diese scheinbare Lücke füllen werden. Wir glauben, dass durch neue Perspektiven und neue Fragen an dieses Material die Zukunft der Zeitzeugenschaft gar nicht mehr so schwarz auszumalen ist.“

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