Zeugin einer vergangenen Ära

Seit Beginn der Coronapandemie hat auch die jüdische Gemeinde Wien einige Menschen zu beklagen, die an dem Covid-19-Virus verstorben sind. Eine von ihnen war Ruth Seymann. Sie kam 1942 in England als Tochter von Wiener Emigranten zur Welt, die 1946 wieder nach Österreich zurückkehrten. WINA sprach mit Sohn Martin Seymann über seine Familie, die sich vor der Flucht vor den Nazis im Widerstand engagierte und auch nach dem Krieg in der KPÖ politisch aktiv war.

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Ruth Seymann. Familienmensch und politisch engagiert. © privat

Ruth Seymann war schon lange krank. Ihr Tod kam dann dennoch unerwartet plötzlich. Ihre psychische Situation war viele Jahr ein Auf und Ab, bei ESRA fand sie, erzählt der Sohn, gute Betreuung und medikamentöse Einstellung. Doch die Medikamente, über Jahrzehnte eingenommen, schädigten ihre Nieren, sodass sie in der Folge regelmäßig Dialyse benötigte, wodurch die Arzneien nicht mehr so gut wirkten. Deshalb übersiedelte sie bereits im Alter von 63 Jahren ins Maimonides Zentrum.
Dort war sie zuletzt gerade auf jener Station im fünften Stock untergebracht, auf der sich im Herbst das Coronavirus verbreitete. Am 27. September 2020 wurde sie positiv auf das Virus getestet, einen Tag darauf kam sie ins Spital, wo sie am 12. Oktober verstarb. Sie hinterlässt ihre beiden Kinder Martin Seymann und Sonja Frank sowie vier Enkelkinder – das jüngste kam erst vor ein paar Monaten zur Welt, sie hat es auf Grund der Pandemiesituation nur mehr auf Fotos gesehen. Das Mädchen trägt den Namen Gita, nach der Großmutter Ruths, die Gitel hieß.
Die Kinder erinnern sich bei der nun Verstorbenen an eine „herzensgute Person“ (Martin), die sich immer liebevoll um eben die Kinder und auch die älteren Enkel kümmerte, und an eine Frau, die stets politisch für eine solidarische, soziale Haltung eintrat (Sonja). Das Judentum war in der Familie über die Geschichte spürbar, die Verbindung immer da, Religion wurde aber nicht gelebt. Dennoch wollte auch Ruth – wie bereits ihre Eltern Ludwig und Fanny Grossmann – am Tor 4 begraben werden.
Sie waren es, die auch die politische Haltung von Ruth Seymann prägten. Fanny Grossmann (geb. Landesmann) kam 1920 in Wien zur Welt, der Vater arbeitete meist im Eier-und-Butter-Großhandel des Bruders in Deutschland, die Mutter brachte das Kind mit Stickerei in Heimarbeit durch, ließ die Tochter aber die finanzielle Not nach Möglichkeit nicht spüren. Die Tochter wurde bei den Roten Falken sozialisiert, schildert allerdings – nachzulesen in den von Centropa dokumentierten Lebenserinnerungen –, dass die Mutter noch religiös gewesen sei. Auch als die Sozialdemokraten ab 1934 verboten waren, engagierte sie sich politisch, „da haben wir dann illegal gearbeitet“. Nach der Hauptschule besuchte sie eine Fachschule für Weißnähen und trat 1938 ihre erste Arbeitsstelle in einer jüdischen Firma am Graben an. Der Posten sollte ihr nur wenige Wochen bleiben. Doch rasch gelang es ihr, nach England zu emigrieren, 1939 konnte auch ihre Mutter nachkommen. Der Vater wurde im KZ Buchenwald ermordet.
Ludwig Grossmann wurde 1919 in Wien geboren. Der Vater war Vertreter für Textilwaren. Er und seine Geschwister seien „Zionisten“ gewesen, erzählte er im Gespräch mit Centropa. Im Schomer habe man sie auf die Alija vorbereitet. Nach der Schule absolvierte er eine Elektrikerlehre. Auch er engagierte sich bereits in seiner Jugend politisch. „Ich war vorbestraft, weil ich im kommunistischen Jugendverband aktiv mitgearbeitet hatte.“ Ende Mai 1938 wurden er und sein Bruder verhaftet, im Juni wurden sie ins KZ Dachau transportiert, ein paar Monate später weiter ins KZ Buchenwald. In Buchenwald war er in einer Baracke mit dem um sieben Jahre älteren Jura Soyfer – eine prägende Begegnung.
Soyfer starb in Buchenwald an Typhus. Ludwig Grossmann und sein Bruder Herbert wurden allerdings im April 1939 entlassen, da sie sich verpflichteten zu emigrieren. Das dazu nötige Permit hatte die ältere Schwester der beiden, Jaffa, organisiert. Ihr war es bereits im April 1938 gelungen, nach England zu flüchten, wohin ihr nun die beiden Brüder folgten. In London begegnete Ludwig bei „Young Austria“ Fanny wieder, die er bereits in Wien kennengelernt hatte. Die Beziehung ergab sich aber erst in der Emigration. Sie heirateten, und 1942 kam eben Tochter Ruth zur Welt.

Viele Erzählungen meiner Mutter über die Familie und ihre Solidarität mit Migranten in Österreich waren mir eine Schule.
Sonja Frank

Wieder in Österreich engagierte sich das Paar bei der KPÖ. Die Enkelin Sonja Frank formuliert es bei der Trauerrede für ihre Mutter so: „Ihre Eltern waren beide kommunistische Widerstandskämpfer in Österreich und in England. […] Im November 1946 war die Familie Grossmann nach etwa sieben Jahren Exilzeit mit ihrer mittlerweile viereinhalbjährigen Tochter nach Wien zurückgekehrt. Sie unterstützten den antifaschistischen Kampf der KPÖ weiter. Sie setzten sich wegen der Erlebnisse im Faschismus für ihre Mitmenschen ein und hofften auf ein gerechteres Leben.“ Ludwigs Bruder Herbert war als Besatzungssoldat nach Wien zurückgekehrt. Jaffa blieb dagegen in England.

Martin Seymann, Sohn von Ruth Seymann – „Sie war eine herzensgute Person“ – mit seinen Töchtern Zippi und Gita. © privat

Ruth wuchs also in Wien auf und studierte nach der Matura zunächst Pharmazie, lernte aber schon früh in der „Freien Österreichischen Jugend“ (FÖJ), der vorwiegend Kommunisten und Sozialisten angehörten, ihren späteren Ehemann Ernst Seymann kennen. Bald kam Tochter Sonja zur Welt, zwei Jahre später Martin, das Studium schloss sie daher nicht ab.
Wenn sich Martin Seymann an seine Kindheit und Jugend erinnert, ist da auf der einen Seite die Erkrankung der Mutter. Auf der anderen Seite sind viele glückliche Tage, Wochenenden, Sommerwochen am Neufelder See. Dort trafen einander die FÖJler, dort wurde geschwommen, gezeltet, Tischtennis gespielt, politisiert. Die Ehe sollte allerdings am Ende nicht halten. In den 1980er-Jahren ließ sich das Paar scheiden. Die goldenen Tage der Clique vom Neufelder See sind inzwischen auch schon lange vorbei.
Die Mutter ging noch eine weitere Beziehung ein – mit Yaser Celik, einem Muslimen türkischer Herkunft. „Sie verbrachte schöne Jahre mit ihm und wurde von seiner in der Türkei lebenden Familie akzeptiert, obwohl sie Jüdin war und er Muslim“, sagte die Tochter in ihrer Trauerrede. Und: „Viele Erzählungen meiner Mutter über die Familie und ihre Solidarität mit Migranten in Österreich waren mir eine Schule.“
Die Großeltern blieben jedoch bis zu ihrem Ableben vereint, das Engagement für die KPÖ erlitt allerdings Risse. „In den letzten ein, zwei Jahrzehnten ihres Lebens hat es da eine politische Enttäuschung gegeben“, erinnert sich Enkel Martin. „Mein Großvater hat irgendwann einmal gesagt: Man hat uns ja das ganze Leben lang angelogen.“ Zu lange habe man daran festgehalten, dass alles, was gegen Russland gesagt wurde, westliche Propaganda sei. „Da hat sich mein Großvater eingestanden, dass man es sich zu leicht gemacht hat.“ Das Paar engagierte sich zudem zeitlebens in der Gewerkschaft, Ludwig war auch Betriebsrat bei der Loba Chemie.
Religion spielte in der Familie keine und daher erst im Erwachsenenleben von Martin Seymann eine Rolle. Ein Kuraufenthalt in Israel in seinen Dreißigern machte ihn neugierig, ließ ihn, zurückgekehrt nach Wien, Anschluss in der jüdischen Gemeinde suchen, den er bei Moadon fand. Dort lernte er auch Chava, seine Frau, kennen, die modern orthodox lebte. Nach einer religiöseren Phase ist er selbst nun eher wieder zu seinen familiären Wurzeln zurückgekehrt und mehr im Politisieren als im Gebet zu Hause. Seine Mutter habe im Alter im MZ aber durchaus Gefallen an den Feiertagen gefunden, sagt der Sohn. Und nun eben ihre letzte Ruhe am 4. Tor.
Dass die Mutter ausgerechnet auf jener Station im MZ untergebracht war, auf der sich das Coronavirus verbreitete, ist aus Sicht der Kinder traurig. Martin Seymann ist es allerdings gerade deshalb wichtig zu sagen, „dass sie die vielen Jahre im Maimonides Zentrum hervorragend betreut wurde. Ich möchte mich beim gesamten Personal dafür bedanken.“

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