Zu lange weg gewesen

Man kann sich nicht daran gewöhnen: an die wöchentlichen Freilassungen, an die entsetzlichen Inszenierungen der Terroristen, an die Spuren der Geiselhaft in den Augen, an die Angst vor den nächsten Übergaben und davor, wie schnell es wieder vorbei sein kann.

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Journalisten berichteten von einer Stimmung des Entsetzens am Platz der Entführten in Tel Aviv, als Eli Sharabi, Or Levy und Ohad Ben Ami nach fast 500 Tagen aus der Geiselhaft freikamen. © Menahem Kahana / AFP

Es regnet in Tel Aviv. Im Café „Espresso Bar“ an der Ecke Dizengoff-Frishman ist es kalt. Die Gäste haben ihre Mäntel anbehalten. Vormittags sitzen hier vor allem ältere Jahrgänge, viele sind Stammkunden. Man kennt einander. Plötzlich ruft eine unsichtbare Frau mit eindringlicher Stimme am Tisch nebenan: „Shlomo, geh’ ans Telefon, du wirst angerufen.“ Der Mann, der dort sitzt, holt daraufhin sein Handy heraus und meldet sich. Sein Gerät wird in der nächsten halben Stunde noch öfter so „klingeln“. Eine geniale Idee, finde ich. Aber hier kennt man das längst.

Leider findet der Mann seine Brille nicht. Weil er Zeitung lesen will, fragt er den Besitzer, ob er nicht eine für ihn hätte. Die Bedienung bringt sieben Exemplare zum Ausprobieren. „Sie glauben ja nicht, was die Leute hier alles vergessen.“ Eine davon passt.

Eigentlich sind die jüngsten Nachrichten eh allen bekannt. Vielleicht redet gerade deshalb auch lieber niemand über den furchtbaren Zustand, in dem die drei Geiseln Eli Sharabi, Ohad Ben-Ami und Or Levy am Vortag aus den Tunneln in Gaza zurückgekehrt sind. Schatten ihrer selbst. Die Ärzte sprechen von Symptomen wie bei Überlebenden von Konzentrationslagern.

Es war die fünfte Geiselübergabe seit Beginn des fragilen Deals. Was bei den ersten Malen noch Freude und Hoffnung auf weitere Freilassungen ausgelöst hat, ist jetzt umgekippt in blanke Angst. Wie werden die nächsten Übergaben aussehen? Wie viele wird es überhaupt noch geben?

„Du bist lange weg gewesen“, hat der dreijährige Almog zu seinem Vater Or gesagt. Und dass die Mutter tot sei und nicht mehr wiederkomme. Die Großeltern haben sich die ganze Zeit um Almog gekümmert, sie waren die Babysitter, als Or und seine Frau Einav zur Rave-Party nach Re’im wollten. Während des Angriffs der Hamas hatten sie Schutz in einem der sogenannten „Todesbunker“ gesucht. Or schaffte es noch, eine von den Terroristen hineingeworfene Handgranate wieder hinauszuwerfen, bevor sie ihn verschleppten. Was mit Einav passiert war, erfuhr er bei seiner Rückkehr. Immerhin hat er er einen kleinen Sohn, der ihn braucht. Eli Sharabi wusste auch nicht, was mit seiner Familie passiert war. Er muss jetzt mit der Tatsache weiterleben, dass seine Frau, seine beiden Kinder und sein Bruder tot sind. Ohad Ben Ami hatte Glück. Seine Frau, die auch von der Hamas verschleppt worden war, kam sechs Wochen später frei.

Noch dauert die erste Phase des Deals an, insgesamt erstreckt sich das auf 42 Tage, aber das kann sich jeden Moment ändern. Über die zweite und dritte Phase muss erst noch verhandelt werden. 76 Geiseln sind noch dort. Etwa die Hälfte soll noch am Leben sein.

Entsetzen im Gesicht, als Familie und Freunde Ohad Ben Ami bei der Übergabe erblicken. Ärzte sprechen bei den
drei Geiseln von Symptomen wie bei Überlebenden von Konzentrationslagern. © Menahem Kahana / AFP

 

Der Startschuss für die Verhandlungen über die zweite Phase hätte während Netanjahus Besuch im Weißen Haus fallen sollen. Aber dann warf Trump seine Idee von einer amerikanischen Übernahme von Gaza in den Raum. Vielleicht meint er es tatsächlich ernst. Vielleicht vergisst er das wieder. Vielleicht war das ja auch nur als Testballon gedacht, um andere zum Mitdenken darüber anzuregen, wie der Tag danach aussehen könnte, falls dann eben doch keine neue Riviera im Nahen Osten entsteht. Jedenfalls weiß niemand, was das jetzt alles bedeutet.

Von der Espresso Bar bis zum Dizengoff-Platz sind es nur ein paar Schritte. Dort ist eine ständig im Wandel begriffenen Erinnerungsstätte entstanden. Um den Springbrunnen herum reihen sich die Bilder von Ermordeten und Gefallenen. Manche sind inzwischen zerfleddert oder wurden erneuert. Die großen Teddybären sind durch viele kleine ersetzt worden. Man fragt sich, ob der Ort je wieder wie früher genutzt werden wird. Das heißt, dass man hier einfach nur sitzen und sich am Wasser erfreuen kann. Wer aber wird das wann entscheiden? Wenn alle Geiseln zurück sind? Wenn ein Neuanfang in Sicht ist? Wenn es eine neue Regierung gibt? Wenn die Hamas nicht mehr das Sagen in Gaza hat? Wenn klar ist, wie der Tag danach aussieht? Wenn es wieder Vertrauen in die Zukunft gibt?

 

Der Startschuss für die Verhandlungen über
die zweite Phase hätte während Netanjahus Besuch
im Weißen
Haus fallen sollen.

 

Wie viele andere Kinder haben, wie auch meine, hier am Dizengoff-Platz das Fahrradfahren gelernt, sie sind – zuerst mit und dann ohne Stützräder – um den Springbrunnen herum gerast. Inzwischen sind sie groß und haben schon eine ganze Reihe von Kriegen hinter sich. Zu ihren Kinderängsten zählte aber auch die Furcht, dass es in Tel Aviv zu einem Tsunami kommen könnte. Mir schien das ja eher abwegig. Ich versuchte also zu beruhigen. Doch dann tauchten vor ein paar Jahren tatsächlich in Strandnähe die grün-weißen Warnschilder auf. Sie zeigen die Evakuierungswege an.

Nach den Erdbeben in San Torino gibt es jetzt ein Update. Im Ernstfall gibt es zwei Stunden Vorwarnzeit, um sich in Sicherheit zu bringen. Wir wohnen nicht weit vom Meer enfernt. Bis wohin wir dann von zuhause aus laufen müssten, fragte mich meine Jüngste. „Bis zum Rabin-Platz“, schlug ich vor, „das müsste ausreichen, schließlich sind wir hier doch nicht am Pazifik.“ Da wäre sie sich nicht so sicher, kam es zurück. Wie fatal es sein könne, einer „falschen Konzeption“ zu erliegen, das müsse sie nach dem 7. Oktober ja wohl nicht erklären.

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