Zwei Seiten einer Medaille

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Jüdisches Leben in Erdoğans Türkei – eine schwierige Gratwanderung. Von Marta S. Halpert

Es war die Sensation im Dezember 2015 und in der 92-jährigen Geschichte der türkischen Republik: Der Präsident der Jüdischen Gemeinden in der Türkei, Ishak Ibrahimzadeh, der Oberrabbiner İzak Haleva und mehrere Honoratioren zündeten Chanukka-Kerzen auf einem öffentlichen Platz in Beşiktaş, einem Stadtteil von Istanbul. Dessen Bezirksbürgermeister Murat Hazinedar sorgte für eine weitere Erstmaligkeit: In der Synagoge Neve Shalom vollzog er für ein jüdisches Brautpaar die zivile Trauung, kurz davor hatte ebendort die Hochzeitszeremonie mit Rabbiner und Chuppa stattgefunden.

„Antisemitismus, verbale Attacken und auch Verschwörungstheorien sind eine beunruhigende Erscheinung.“
Adil Anjel, Jüdische Gemeinde

Das ist die eine Seite der Medaille: Auf der anderen sieht man ein Video, das zeigt, wie türkische Fans das israelische Frauen-Basketball-Team während des Absingens der Hatikwa mit Flaschen und anderen Gegenständen bewerfen und attackieren. Auch der Applaus vieler Besucher für diese Aktion ist zu hören: All das knapp vor dem Eröffnungsmatch der Europäischen Meisterschaften in Ankara. Das israelische Model Bar Refaeli sagte ihre Teilnahme am Laleli Fashion Shopping Festival ab, nachdem konservative Medien, inklusive der islamistischen Tageszeitung Yeni Akit, sie als „zionistisches Model“ und ihre offizielle Einladung als „Verrat“ bezeichnet hatten. Das Sicherheitsrisiko war zu groß.

Die heutige Situation der rund 23.000 türkischen Juden wird immer mehr zu einer schwierigen Gratwanderung, die der Gemeinde sowohl viel diplomatisches Geschick abverlangt, als auch ihre Selbstachtung ständig auf die Probe stellt. Denn die Haltung des Staates gegenüber seinen jüdischen Bürgern ist mehr als zwiespältig und widersprüchlich. Während Holocaust-Gedenken veranstaltet und Bethäuser renoviert werden, wie zuletzt um mehr als zwei Millionen Euro die Große Synagoge von Edirne, lassen regierungsnahe Medien und Parteiorgane der AKP jedwede antijüdische Hetze ungestört zu, insbesondere abstrusen Verschwörungstheorien wird kein Einhalt geboten. „Alles, was manchen Leuten zuwider ist – Musik, Kunst oder eine Lebensart – wird zur ‚jüdischen Musik‘ oder zur ‚jüdischen Kunst‘ gemacht“, moniert Ivo Molinas, Chefredakteur der türkisch-jüdischen Zeitung Shalom. „Es findet schon eine Dämonisierung statt.“

„Antisemitismus, verbale Attacken und Verschwörungstheorien sind eine beunruhigende Erscheinung, und die türkischen Juden spüren diese Bedrohung“, sagt Adil Anjel, Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinden in der Türkei und ihr Außen- und Sicherheitsbeauftragter. „Aber ‚zum Glück‘ haben wir in den letzten Jahren keine tätlichen Angriffe erlebt.“ Und er fügt schnell hinzu: „Im Verlauf der beiden letzten Wahlgänge waren auch keine antisemitischen Anspielungen oder Ausfälle zu verzeichnen.“ Der erfolgreiche Geschäftsmann relativiert die jüngsten Ereignisse ein wenig, aber der Gemeinde sitzt ein anderes Trauma im Nacken: Sie erinnert sich mit Schrecken an die terroristischen Vorfälle von 1986, 1992 und 2003. Das Ziel aller drei Anschläge war die 1951 errichtete Neve-Shalom-Synagoge in Istanbul: 1986 wurden während des Gebetes 25 Menschen von palästinensischen Terroristen getötet. Sechs Jahre später konnte ein weiterer Angriff verhindert werden, aber nicht 2003, als bei einer Serie von Anschlägen Neve Shalom erneut zum Tatort wurde und sechs Gemeindemitglieder ums Leben kamen.

Licht und Dunkelheit.  Jüdisches Leben in der Türkei ist eine schwierige Gratwanderung.
Licht und Dunkelheit.
Jüdisches Leben in der Türkei ist
eine schwierige Gratwanderung.

Die Infrastruktur der jüdischen Gemeinde in Istanbul, wo die meisten Juden leben, kann sich jedenfalls sehen lassen: Rund 600 Schüler besuchen auf einem großen Campus die Volks- und Mittelschule. Es gibt zwei jüdische Spitäler, ein Altersheim und mehrere zusätzliche Wohlfahrtsorganisationen. Jugend- und Sportklubs, Discos und Bibliotheken vervollständigen das Angebot. „Die meisten Juden sind in der Community registriert, weil sie ja unsere Dienstleistungen benötigen – für Hochzeiten, Scheidungen, Brit Mila und Bar Mitzwoth“, erzählt Anjel, der bedauert, dass nicht alle Mitglieder aktiv am jüdischen Gemeindeleben teilnehmen. „Aber unsere Gemeinde ist traditionell ausgerichtet, und wenn man ein religiöses Leben führen will, können wir alles anbieten was dazugehört.“

Die Gemeinde ist heute stolz darauf, dass ihre Mitglieder auch in gesellschaftlich angesehenen Berufen vertreten sind. „Wir haben einen schönen Querschnitt an Akademikern, Ärzten, Wissenschaftlern, Künstlern sowie erfolgreichen Geschäftsleuten.“ Aber der Software-Entwickler bedauert gleichzeitig, dass viele junge Leute nur mehr in großen Unternehmen unterkommen, weil es immer schwieriger wird, die kleineren Geschäfte der Väter weiterzuführen. Und bei Weitem nicht alle sind wohlhabend: „Leider nimmt die Zahl derjenigen zu, die auf Hilfe durch die Gemeinde angewiesen sind. Da geht es hauptsächlich um Schulstipendien, Mietzuschüsse und Essenspakete.“

Die NS-Zeit: Mythos und Wahrheit?

Jüdisches Leben in der Türkei reicht mehr als 500 Jahre zurück: 96 Prozent der türkisch-jüdischen Familien waren vor der Zwangschristianisierung aus dem Spanien der Inquisition geflohen. Das katholische Spanien hatte 1492 mehr als hunderttausend Juden aus Sefarad vertrieben. Das Osmanische Reich nahm die gebildeten Juden mit offenen Armen auf. „Sein Land lässt er verarmen, und mein Reich bereichert er“, wunderte sich damals Sultan Beyazit II. über den spanischen König. Das multikulturelle islamische Imperium gewährte Juden, wie auch anderen religiösen Minderheiten, Religionsfreiheit – allerdings unter besonderen Steuerleistungen. Die Spuren jüdischen Lebens kann man heute noch im europäischen Stadtteil Beyoglu in Istanbul entdecken: Die Trassen der roten Straßenbahn hatten Vorläufer in einer Pferdestraßenbahn, die im 19. Jahrhundert von der jüdischen Bankiersfamilie Camondo nach Istanbul gebracht wurde. Die Camondos zählten zu den bedeutenden Kunstförderern der Stadt und prägten mehrere Stadtteile mit ihren eindrucksvollen Bauwerken.

Obwohl einige junge Leute nach der Schule zum Studium ins Ausland fahren, glauben sie an ihre Zukunft in der Türkei.

Während der NS-Zeit suchten viele aschkenasische Juden aus Deutschland und Osteuropa Zuflucht in der damals noch jungen Türkischen Republik. Staatschef Mustafa Kemal Atatürk öffnete sein Land und dessen Universitäten für jüdische Professoren und sozialdemokratische Politiker, einer von ihnen war der spätere Berliner Bürgermeister Ernst Reuter. Die Turkologin Corry Guttstadt untersuchte in ihrem Buch Die Türkei, die Juden und der Holocaust diese „judenfreundliche Politik“ und räumt dabei vor allem mit dem Mythos auf, die Türkei habe unzählige türkische Jüdinnen und Juden vor der Ermordung durch die Natio­nalsozialisten gerettet. „Genährt wurde dieser Mythos nicht nur durch Aussagen seitens der türkischen Politik, sondern auch durch zahlreiche internationale Publikationen“, schreibt Guttstadt. Darin wurde immer darauf verwiesen, dass die tolerante Haltung der Türkei gegenüber der jüdischen Minderheit bekannt gewesen sei. „Man kann davon ausgehen“, erläutert Guttstadt, „dass die türkische Regierung spätestens Mitte 1943 über die systematische Ermordung der Juden durch die Deutschen im Bilde war“.

Auch bediente sich die Türkei der Amtshilfe der deutschen NS-Behörde, indem sie dieser mitteilte, welche Personen den Schutz des türkischen Staates verloren hatten: Allein in Deutschland waren somit zweihundert jüdisch-türkische Familien den Nazi-Schergen ausgeliefert. „Insgesamt wurden rund 2.500 Juden und Jüdinnen türkischer Abstammung in die Vernichtungslager Auschwitz und Sobibor deportiert und ermordet“, stellt die Historikerin fest. Zwar gab es einzelne türkische Diplomaten in Europa, die sich erfolgreich für jüdische Türken einsetzten, aber die Politik Ankaras war klar und unmissverständlich: Während deutsche Kriegsschiffe bis Sommer 1944 problemlos die Meeren­­gen passieren konnten, machte die „Festung Türkei“ ihre Grenzen für Flüchtlinge dicht und torpedierte damit ihre Rettung und die Rückkehr in die Türkei.

Wendepunkt „Mavi Marmara“

Die Türkei und Israel hatten jahrzehntelang gute, stabile Beziehungen. Die Türkei hatte als erstes muslimisches Land den Staat Israel anerkannt, und seit 1996 wurden die militärischen und wirtschaftlichen Kooperationen laufend verstärkt. Der dramatische Wendepunkt kam im Mai 2010 durch den Vorfall mit der Mavi Marmara: Eine türkische Hilfsflotte durchbrach die Gaza-Blockade, und israelische Soldaten stürmten das Schiff. Dabei kamen zehn Türken ums Leben. „Damals haben wir als jüdische Gemeinschaft unser größtes Trauma erlebt, denn es hätte durchaus sein können, dass man uns am nächsten Tag vielleicht gar nicht mehr im Land duldet“, erinnert sich Chefredakteur Molinas. Seiner Meinung nach habe die AKP-Regierung Erdogans die Krise jedoch vernünftig bewältigt, indem sie die Drohungen gegen die Gemeinde gestoppt und sich hinter ihre jüdischen Bürger gestellt habe. Inzwischen findet bereits eine vorsichtige Annäherung zwischen Israel und der Türkei statt, weil Israel Entschädigungen für die Hinterbliebenen der Opfer geleistet hat.

Vor der Gründung des Staates Israel lebten in der Türkei mehr als 120.000 Juden. Heute leben etwa 18.000 Juden in Istanbul, etwa 1.500 in Izmir und kleinere Gruppen in weiteren Städten. Während Ivo Molinas behauptet, dass rund 150, vor allem junge Juden, das Land jährlich verlassen, weil sie keine Zukunft in der Türkei für sich sehen, widerspricht ihm Adil Anjel heftig: „Obwohl einige junge Leute nach der Schule zum Studium ins Ausland fahren, glauben sie an ihre Zukunft in der Türkei.“

Das Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinden betont auch das gute Verhältnis zu den türkischen Behörden, sowohl auf regionaler als auch nationaler Ebene. „Die meisten Anliegen können direkt angesprochen und gemeinsam gelöst werden“, so Anjel. Die jüdischen Repräsentanten üben sich offensichtlich tagtäglich in der Kunst des würdigen Überlebens mit einem gewissen Maß an Selbstachtung. Daher wundert es nicht, dass die Begrüßung von Ishak Ibrahimzadeh, Präsident der jüdischen Gemeinden in der Türkei, beim Zünden der Chanukka-Kerzen überschwänglich ausfiel: „Herzlichen Dank an den türkischen Staat, an das Außenministerium, an die Beamten und Bürger und die liebe Türkei als Ganzes.“

Bilder: © Sedat Suna / picturedesk.com

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