Zweite Welle

Der Sommer hat nicht gut begonnen. Die gerade angebrochene Ferienzeit unter dem Zeichen von Corona ist geprägt von Angst, Rebellion und Wut.

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Der Sommer 2020 in Israel ist geprägt von Angst, Wut und Protest. © Gisela Dachs

Eigentlich sollte es hier nicht nochmals um Corona gehen. Es gäbe tatsächlich auch anderes, das – vor allem im Ausland – riesige Schlagzeilen macht. Wie etwa Benjamin Netanjahus oft wiederholtes Versprechen von einer Ausweitung israelischer Souveränität auf Teile der Westjordanlands. Doch hat der Premier das Stichdatum 1. Juli nun einfach vorbeiziehen lassen, und eine Mehrheit der Israelis (55 Prozent nach einer Umfrage des israelischen Demokratieinstituts) hält es für höchst unwahrscheinlich, dass ein solcher Schritt im kommenden Jahr überhaupt noch erfolgen wird. Ein Viertel spricht sich ohnehin dagegen aus, 29 Prozent sagen, dass sie nicht wissen, ob die Regierung diesen Weg einschlagen sollte. Der Rest teilt sich auf in die Befürworter einer Annektierung des gesamten Gebiets (24 Prozent), der großen Siedlungsblöcke (14 Prozent) und nur des Jordantals (8 Prozent). Verwundert hat es hier kaum jemanden, dass der risikoscheue Netanjahu – wie schon so oft – seinen Worten nicht gefolgt ist.
Der 1. Juli aber scheint nun schon wieder eine Ewigkeit her. Die zweite Coronawelle war da schon im Anrollen. Fast jeden Tag gab es seither weit mehr als tausend neue Ansteckungsfälle mit Covid-19. Kritiker verweisen auf zu frühe und zu drastische Lockerungen, auf ein Krisenmanagement voller unklarer Anweisungen über das, was wieder, nicht mehr oder noch nicht erlaubt ist. Jetzt wurden erneute Lockdowns beschlossen, aber das öffentliche Vertrauen in die Verantwortlichen ist im Keller. In Tel Aviv gibt es neuerdings riesige Plakate mit den Basics der Coronabekämpfung. Haltet euch an die Regeln, heißt es dort, dann werden wir es gemeinsam schaffen.

Viele Israelis rebellieren, nicht unbedingt weil sie die Gefahr von Corona unterschätzen, sondern weil sie das Vertrauen in die Regierung komplett verloren haben.

Die Fahrlässigkeit im Umgang mit dem Virus mag sich auch mit der immer noch sehr geringen Zahl der Toten (immer noch weit unter 500) und Schwersterkrankten erklären lassen. Tatsache ist, dass sich diesmal sehr viel mehr Jüngere angesteckt und deshalb vielleicht auch einen leichteren Krankheitsverlauf haben.
Die meisten der jüngsten Infektionen sollen auf Hochzeiten und zuhause erfolgt sein. Nachdem die erste Welle vorbei schien, gab es auch Abiturabschlussfeiern und private Dachpartys. So kam plötzlich das Virus auch in Tel Aviv immer näher. Immer mehr Bekannte sind in Quarantäne, manche davon dann auch positiv getestet.
Das Nachvollziehen der Infektionsketten erscheint wie eine Sisyphusarbeit. Es gibt zu wenig Personal dafür, und auch die Technologie funktionierte nicht richtig. Manche bekamen eine Nachricht auf ihrem Handy, dass sie sich selbst isolieren sollen, hatten die besagte Infektionsquelle aber nie getroffen. Andere, die in Kontakt mit einem Erkrankten waren, hatten nie eine SMS bekommen. Geschätzt wird, dass sich nur ein Viertel all jener, die in Quarantäne sein sollten, auch wirklich dahin begeben. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis die Regierung erneut die Notbremse ziehen würde.
Bleibt die Frage, warum diesmal nicht mehr klappt, was beim ersten Mal offenbar so gut funktioniert hat. Da ist einmal die Dauer. Die Menschen sind es gewöhnt, in Krisenzeiten zusammenzustehen und sich über eine begrenzte Zeitperiode hinweg durchaus diszipliniert an klare Anweisungen von oben zu halten – bis alles wieder vorbei ist. So hat man Kriege, Raketenbeschüsse und schlimme Unwetter gemeistert, immer das Danach klar im Auge. Corona aber zieht sich hin wie Kaugummi. Als man das Virus schon besiegt glaubte, hatte es sich nur dünn gemacht.

Geschätzt wird, dass sich nur ein Viertel derer, die in Quarantäne sein sollten, auch wirklich dahin begeben.

Es herrschte lange Zeit aber auch eine Apathie bei den Regierenden, allen voran der Ministerpräsident selbst. Wäre Covid-19 eine Rakete, Israels Reaktion wäre eine andere, titelt die Jerusalem Post. Man stelle sich ein Wochenende vor, schreibt Yaakov Katz, bei dem tausend Menschen bei Angriffen verletzt werden, und der Ministerpräsident schickt anschließend drei Twitter-Nachrichten hinaus: gegen den Generalstaatsanwalt, gegen die Gerichte und deren Entscheidung, dass er keine zehn Millionen Schekel für seine Prozesskosten von einem Freund annehmen darf, der zugleich als Zeuge in dem Verfahren geladen ist. Nichts über die Raketen oder die Verletzten. Nur über ihn selbst. […] Und anstatt einen detaillierten Wirtschaftsplan auszuarbeiten, zu dem vier Monate lang Zeit war, fährt Katz fort, stimmt die Regierung über die Einrichtung einer parlamentarischen Kommission ab (die sich mit potenziellen Interessenkonflikten der Obersten Richter hätte befassen sollen).
Die Sorgen des kleinen Manns erreichten die Regierenden offenbar nicht. In derselben ob erwähnten Umfrage drückten 60 Prozent der Befragten ihre Ängste hinsichtlich der wirtschaftlichen Zukunft aus. Die Betroffenen stellen nun zunehmend die Logik der Maßnahmen in Frage. Warum müssen Fitnessclubs und Schwimmbäder geschlossen bleiben, fragen sich Betreiber und Angestellte, während Restaurants, Friseurläden und Jeschiwot offenbleiben dürfen? Viele Israelis rebellieren, nicht unbedingt weil sie die Gefahr von Corona unterschätzen, sondern weil sie das Vertrauen in die Regierung komplett verloren haben. Seither wird in Jerusalem und Tel Aviv regelmäßig und lautstark protestiert. Demonstranten setzten sich zuletzt Masken von Zachi Ha-Negbi auf, einem Likud-Minister ohne Portfolio, dem in diesen Zeiten nichts Besseres eingefallen ist, als zu behaupten, dass in Israel niemand hungert. Über ihn war daraufhin eine Welle der Wut hereingebrochen, begleitet von Verweisen auf einen Gehaltzettel, der ihn und seine weiteren 35 Ministerkollegen – unabhängig von Corona – in sicheren Gefilden hält. Ähnlich abgehoben von der Realität war dann die Anordnung, die öffentlichen Busse künftig mit beschränkter Personenzahl, ausgeschalteter Klimaanlage und offenen Fenstern fahren zu lassen. Vergessen wurde dabei bloß, dass sich die Fenster dort gar nicht öffnen lassen. Es hat sich ein Zorn über das offentlichtliche Missmanagement und die Planlosigkeit zusammengebraut, der allenthalben spürbar ist. Versuche, die Demonstranten als linke Netanjahu-Gegner zu abzustempeln, greifen nicht. Auch hat die Gewaltbereitschaft bei den Ausschreitungen zugenommen. Anders, so finden nicht wenige, könne man „denen da oben“ nicht klarmachen, dass sich etwas ändern müsse.
Der Sommer 2020 hat gerade erst begonnen. Auch wird niemand so schnell zum Dampfablassen in die Ferien ins Ausland fliegen können – selbst wenn er es sich leisten könnte.

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