Wina: Als Gast des Wiener Wiesenthal Instituts referierten Sie jüngst über das Thema „Neue Wege des Erinnerns – zwischen Blackbox, White Cube und Ivory Tower“. Können Sie uns erklären, wofür diese Begriffe stehen?
Mirjam Zadoff: Der Vortrag beschäftigt sich mit der Genese und der Zukunft von Erinnerung. Geschichtsvergessen wie Menschen nun mal sind, gehen alle gern davon aus, dass schon immer erinnert wurde. Aber der Holocaust war bis in die 1970er-Jahre und lange darüber hinaus eine Art Blackbox – da wurden sowohl Wissen wie auch persönliche Involviertheit hineingepackt, bewusst vergessen. Das öffentliche Gedenken in Deutschland begann erst in den 1980er-Jahren, in Österreich natürlich noch später.
Auch die Geschichtswissenschaft hat sich lange nur punktuell mit dem Holocaust beschäftigt und sich vor allem auf die NS-Geschichte konzentriert – erst in den 1990er-Jahren hat der Historiker Saul Friedländer eine integrierte Geschichte gefordert, in die auch die Perspektive der Opfer aufgenommen wurde. Heute wird zum Thema NS und Holocaust so viel geforscht wie nie zuvor – aber das allgemeine Wissen nimmt wieder ab. Die Wissenschaft muss deshalb immer den Transfer mitdenken und selbst die Brücke schlagen zwischen dem akademischen Elfenbeinturm und dem Rest der Welt.
Und White Cube steht für neue Netzwerke der Wissens- und Kunstproduktion?
❙ Ja, denn Wissenschaft und Kunst haben oft ähnliche Ziele – etwa einen Diskurs über zentrale gesellschaftliche oder politische Themen auszulösen –, doch die Wege sind sehr unterschiedlich. Da, wo Wissenschaft Präzision und Eindeutigkeit fordert, arbeitet Kunst mit Ambivalenz und Vieldeutigkeit. Diese Interdisziplinarität ist für das Nachdenken über Erinnerung eine große Chance. In einem Haus wie dem NS-Dokumentationszentrum München, dessen Dauerausstellung den Schwerpunkt auf den rationalen, wissensbezogenen Zugang zur Vergangenheit legt, wirkt jede Art von Kunst ganz anders als im neutralen White Cube des Kunstmuseums.
Über einen Schlussstrich der Gedenkkultur sinnierte unlängst auch der große alte Herr der SPD, Klaus von Dohnanyi, dessen Familie im NS-Widerstand war. Er meinte, man sollte „nun weniger darüber reden, was war“. Wie reagieren Sie auf diese Tendenzen als Direktorin des NS-Dokumentationszentrums München?
❙ Letztlich geht es doch darum, dass das Sprechen über Erinnerung eine Art Sensibilisierung und Orientierung für die Gegenwart bietet. Wollen wir da-rauf wirklich verzichten? Viele von denen, die jetzt das Vergessen fordern, wollen ja genau das: dass wir wichtige Erfahrungen und Lehren aus der Vergangenheit aufgeben und einen Nationalismus unterstützen, der uns in das 19. Jahrhundert zurückführt – sich aber als Innovation ausgibt. Wenn wir vergessen, vergessen wir auch, wohin Ausgrenzung, Stigmatisierung und Empathieverlust führen können. Das ist sicher nicht die Motivation von Klaus von Dohnanyi, dessen Aussagen zum Thema ich aber nicht kenne.
»Es ist essentiell, Antisemitismus und Rassismus gemeinsam in den Blick zu nehmen, um so neue Allianzen unter den Betroffenen zu schmieden.«
Mirjam Zadoff
Welchen Zugang zur Erinnerung wählen Sie heute, angesichts der Tatsache, dass es immer weniger Zeitzeugen gibt?
❙ Das ist eine große Veränderung und sicher keine einfache. Die Versuche mit digitalen Zeitzeugen zeigen, dass wir uns schon am Ende dieser Übergangsphase befinden. Andererseits bricht die biografische Verbindung über Eltern und Großeltern ab: Lange Zeit wollten die Menschen ja nichts über das Thema hören, weil ihre Eltern Täter und Täterinnen, Profiteure oder Mitläufer waren. Jetzt gilt es, auch mit der zweiten und dritten Generation zu sprechen – über das Aufwachsen in Täterfamilien. Auch die zweite Generation der Überlebenden muss intensiver befragt werden, über ihre Kindheit mit zutiefst traumatisierten Eltern. Ein anderes Problem ist die veränderte Zeit-Raum-Wahrnehmung als Ergebnis der digitalen Revolution – damit müssen wir uns auch beschäftigen.
Sie organisierten u. a. künstlerische Projekte für 200 Berufsschüler, um ihnen das Verständnis für das Ausmaß der NS-Verbrechen zu ermöglichen, indem Sie ihnen die schlimmsten Auswüchse des Alltagsrassismus und der Diskriminierung bewusst machen. Greift das nicht bei der Einzigartigkeit der Schoah zu kurz?
❙ In dem Projekt, das Sie ansprechen, haben wir die Jugendlichen erst einmal mit der Dauerausstellung des Hauses, also mit der Geschichte des Nationalsozialismus in München und darüber hinaus vertraut gemacht. Dann haben die Schüler eigenständig ihre Projekte entwickelt, die sich vor allem mit ihrer eigenen Gegenwart und Zukunft beschäftigen und als Intervention in der Dauerausstellung gezeigt werden.
Geschichte funktioniert hier als Auslöser zum Nachdenken über Gegenwart – und das ist ja genau das, was wir meinen, wenn wir über das Lernen aus der Geschichte sprechen. Den Holocaust als ein isoliertes Phänomen zu betrachten, ist ja nicht unproblematisch. Die Täter gab es nicht nur im Moment des Geschehens: Sie waren vorher und oft auch nachher zentrale Figuren in der Gesellschaft. Das Gleiche trifft auf die Verfolgten zu, die vorher Teil der deutschen, österreichischen oder polnischen Gesellschaft waren. Als Überlebende hatten sie große Probleme, wieder Fuß zu fassen, denn der Antisemitismus war nachher auch noch da. Den Holocaust als historisches Phänomen zu begreifen, heißt nicht, das Ereignis zu relativieren oder die Singularität in Frage zu stellen, ganz im Gegenteil.
Gibt es Kooperationen unter Ihren Kollegen in Europa und den USA, wie man die Erinnerung in die Zukunft retten kann?
❙ Ja sicher und vor allem ein gemeinsames Nachdenken. Vieles wird jetzt ausprobiert und überlegt: virtuelle oder erweiterte Realität oder auch partizipative Ausstellungen zu gegenwärtigen Katastrophen – so etwa eine kürzlich vom Washingtoner Holocaust Memorial Museum veranstaltete Ausstellung zum Bürgerkrieg in Syrien.
Wo heute das NS-Dokumentationszentrum steht, stand früher das „Braune Haus“, die Münchner Parteizentrale der NSDAP. Genau da müssen Sie sich mit vielen Konflikten beschäftigen, die es vor einigen Jahren noch nicht gab: offenen Antisemitismus von rechtsextremer wie von muslimischer Seite und starke rechtspopulistische Strömungen in ganz Europa. Wie geht man damit um?
❙ So ganz waren Antisemitismus und Rassismus ja nie vom Tisch – was jetzt öffentlich ist, existierte schon lange an den Stammtischen und in den Wohnzimmern. Jetzt ist das Thema stärker präsent, und es werden Missstände aufgezeigt, die vorher von vielen Betroffenen stillschweigend akzeptiert wurden.
Wir mischen uns in die Diskussion ein, indem wir Gespräche und Seminare veranstalten, wie kürzlich mit dem aus Israel stammenden deutschen Rapper Ben Salomo. Da ging es um den wachsenden Antisemitismus in der Rap-Szene, vor allem – aber nicht nur – bei Rappern mit Migrationshintergrund.
So sehr der Antisemitismus auch sein eigenes Gesicht hat, ist es doch essentiell, Antisemitismus und Rassismus gemeinsam in den Blick zu nehmen, um so neue Allianzen unter den Betroffenen zu schmieden. Ein Beispiel dafür ist Pittsburgh, wo die muslimische Gemeinde nicht nur Geld für die Opfer des brutalen Attentats auf die Synagoge sammelte, sondern sich auch als Personenschützer für die jüdische Gemeinde angeboten haben. Die Mehrheit der Menschen wollen ein ruhiges, friedliches Leben – Extremismus und Populismus verhetzen ganze Bevölkerungsgruppen, bis Neid und Angst zum Selbstläufer werden. Aus diesem Teufelskreis müssen wir aussteigen und über die tatsächlichen Probleme in unseren Gesellschaften sprechen.
Mirjam Zadoff,
1974 in Innsbruck geboren, studierte Geschichte und Judaistik an der Universität Wien und promovierte in Neuerer und Neuester Geschichte in München. Die Schwerpunkte ihrer Forschungs- und Lehrtätigkeit, die sie u. a. nach Jerusalem, London, Berlin, Berkeley, Zürich und Augsburg führten, sind jüdische Geschichte und Holocauststudien. Seit Mai 2018 leitet Zadoff das NS-Dokumentationszentrums München.
Ihre Monografie Das Leben des Werner Scholem (2014) wurden vielfach ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt.