Interview mit Giora Seeliger
WINA: Unter dem Titel Panik im Stetl gestalten Sie am 11. Dezember im Rahmen des Yiddish Culture Festival Vienna einen Abend mit Texten von Scholem Aleichem. Sie wurden 1953 in Haifa geboren, also viel zu jung, um das Jiddisch des Schtetls gehört zu haben. Woher kann ein Israeli diese schöne Sprache der Vorfahren?
Giora Seeliger: Ich lebe schon seit meinem vierten Lebensjahr in Europa. Außerdem bin ich, wie die meisten Juden, so ein fürchterliches Mischmasch: Beide Eltern sind Jeckes, ein Teil kommt aus dem Rheinland und hat sefardische Wurzeln, der andere aus Marienburg (Malborku) an der deutsch-polnischen Grenze. Zuhause haben wir deutsch gesprochen, erst in Düsseldorf hatten die Eltern einen polnischen Freundeskreis, und da dominierte Jiddisch. Ich werde jedenfalls die Texte von Scholem Aleichem auf Deutsch lesen, also eigentlich in meinem jiddisch gefärbten Wienerisch – oder wienerisch gefärbtem Jiddisch? Es werden auch weniger bekannte Anekdoten und G’schichterln darunter sein.
Ab 1974 studierten Sie in Düsseldorf Soziologie, Psychologie und Pädagogik. Warum kamen Sie nach Europa?
❙ Mein Vater hatte drei Kriege erlebt und dann im jungen Staat Israel die schwierige Zena-Periode mitgemacht, als akuter Mangel an Lebensmitteln herrschte und alles rationiert war. Daher sind die Eltern 1957 nach Deutschland gefahren, um die Wiedergutmachung zu regeln und von dort aus nach Amerika zu einem Cousin auszuwandern. Das alles dauerte Monate, und damals wurden in Düsseldorf auch gute soziale Leistungen angeboten. Sie fühlten sich in der Kultur und Sprache gut aufgehoben, und so sind sie, wie viele andere auch, hängengeblieben.
Wie hat es Sie nach Wien verschlagen?
❙ Vorerst gar nicht. Nach meinem B.A.-Abschluss hatte ich keine Lust mehr auf Erziehungswissenschaften, stattdessen ging ich nach Paris, wo ich bei Étienne Decroux an der Êcole International de Mime Corporel Dramatique studierte. Das waren ganz wunderbare zwei Jahre, in denen ich auch schon Theater gespielt habe. Es folgte eine einjährige Tournee, u. a. mit vier Monaten in Brasilien. Wir haben viele experimentelle Theaterformen ausprobiert, denn in Frankreich gibt es weniger staatlich subventionierte Häuser und viel mehr junge Theatertruppen. Nach meiner zweiten Ausbildung bei Jacques Lecoq folgte dann eine mehrere Jahre dauernde Tournee mit meiner Compagnie Théâtre des Falaises durch ganz Europa mit einem Stück nach Motiven von Picknick im Felde des spanisch-französischen Dramatikers des absurden Theaters Fernando Arrabal.
»Unsere Arbeit und der Humor werden anerkannt, langsam gibt ’s einen Clown auf Krankenschein!«
Wie kam es zum ersten Berührungspunkt mit Österreich?
❙ Eine Wiener Freundin, die mit mir in Paris in der Schauspielausbildung war, hat mich an Samy Molchos Internationale Sommerakademie für Pantomime und Körpersprache empfohlen. Molcho hielt diese Akademie von 1980 bis 1990 ab, daran nahmen jährlich etwa 160 Personen aus dem In- und Ausland teil. Ich war fünf Mal dabei und unterrichtete Körpersprache und Improvisation.
In der Folge landeten Sie am Reinhardt-Seminar?
❙ Ja, ich war insgesamt 20 Jahre dort tätig. Die Karriere begann mit einer Regiearbeit, die Samy Molcho nicht machen wollte, und da hatte ich plötzlich ein riesiges Schauspiel mit 17 Darstellern an der Backe. Ich sprang ins kalte Wasser, und es wurde ein Erfolg. Ich leitete zuerst die einjährige Elementarausbildung, danach war ich Gastprofessor mit anschließenden Aufführungen, später konzentrierte ich mich auf künstlerische Improvisation, Bewegung und Rollenunterricht.
Sie waren auch für das legendäre Schlabarett von Alfred Dorfer tätig?
❙ Ja, unter anderem. Dorfer, der diese erfolgreiche österreichische Kabarettgruppe 1984 gegründet hatte, zählte zuerst zu meinen Studenten, später habe ich auch Programme für das Schlabarett inszeniert. Parallel zu meiner Arbeit am Reinhardt-Seminar wurden mir immer mehr Filmrollen angeboten. Mit dem Spielfilm
Die Flucht von David Rühm haben wir in der Sparte Un Certain Regard sogar an den Filmfestspielen in Cannes teilgenommen.
Wie kamen Sie auf die Idee, die Clowndoctors zu gründen?
❙ Anfang der 1990er-Jahre hat mich Eva Billisich von den Schlabaretts eingeladen, mich einer Gruppe anzuschließen, die als Clowns verkleidet in die Krankenhäuser gingen. Bald darauf entstanden die Roten Nasen, und ich wurde ihr künstlerischer Leiter. Ich fand es sehr reizvoll, Kunst ins Spital zu bringen: Wir können den ernsthaft kranken Kindern und deren Eltern den Kummer leider nicht wegzaubern, aber ein Maß an Vitalität zurückgeben, dass das Leid etwas relativiert. Wir konnten viele Kinder aus diesem schwarzen Loch herausholen. Derzeit haben wir rund 65 Clowns in Österreich. Wir besuchen auch die Frühgeborenen: Das machen wir hauptsächlich für die Mütter, die meist überglücklich sind, da wir die Ersten sind, die ihre Kinder als Menschen ansprechen. Außerdem arbeiten wir auch in der Geriatrie und in der Jugendpsychiatrie.
Sie haben Filialen der Roten Nasen in Ungarn, Tschechien, Deutschland, Slowenien, der Slowakei, in Kroatien, Polen, Litauen und in den palästinensischen Gebieten gegründet. Wie funktioniert das?
❙ Ungarn war das erste Exportland der gemeinnützigen Stiftung Rote Nasen International, das ist jetzt 20 Jahre her: Die CA-Leasing-Bank engagierte sich geschäftlich in Ungarn und wollte das mit einer wohltätigen Geste unterstreichen. Sie gab uns einen Dreijahresvertrag, damit wir die Roten Nasen vor Ort gründen und die Künstler ausbilden. Die Banken-Karawane zog weiter, aber zum Glück machten die ungarischen Kollegen dank lokaler Sponsoren und Kleinspender erfolgreich weiter. In Tschechien, Kroatien, Slowenien und der Slowakei gibt es kleinere Gruppen. Polen hat uns nicht gerufen, da haben wir uns selbst eingeladen und Partner gefunden.
Was lief in den palästinensischen Gebieten?
❙ Nach dem Vorbild des East-Western Divan Orchestra wollte ich ein kleiner „Daniel Barenboim der Clowns“ werden. Es sollten gleichzeitig Israelis und Palästinenser ausgebildet werden, um dann auf neutralem Boden einen gemeinsamen Workshop in Österreich abzuhalten. Wir hatten bereits ein großzügiges Stipendium einer jüdisch-österreichischen Stiftung bekommen. Doch dann bekam die palästinensische Gruppe Angst vor Vergeltungsmaßnahmen und blies alles ab. Das habe ich sehr bedauert, auch weil der palästinensische künstlerische Leiter mutig weitergemacht hat, in Jerusalem aufgetreten ist und mit Standing Ovations toll aufgenommen wurde. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass sich die beiden Künstlergruppen eines Tages austauschen werden.
Was planen Sie für die nächste Zukunft?
❙ Nach wie vor widme ich mich dem Film und dem Schauspiel. Für unsere Clowns möchte ich erreichen, dass wir auch knapp vor einer Operation zu den kleinen Patienten gehen können. Wenn ein Kind stressfrei in die Anästhesie geht, wacht es auch angstfrei nach der OP auf. Es tun sich immer wieder neue Felder auf: In Deutschland macht eine Gebietskrankenkasse für die Geriatrie mit, unsere Arbeit und der Humor werden anerkannt, langsam gibt ’s einen Clown auf Krankenschein!
Giora Seeliger
wurde 1953 in Haifa geboren. Nach dem Studium der Erziehungswissenschaften, Soziologie und Psychologie folgte eine mehrjährige Theaterausbildung in Frankreich. Ab 1990 baute er die CliniClowns Österreich auf, 1994 gründete er den Verein Rote Nasen Clowndoctors Österreich, 2003 die Internationale Schule für Humor, deren Leiter er bis heute ist. Seeliger arbeitet als Schauspieler, Regisseur und Theaterlehrer.