Musikalische Erinnerungen an die Mazzes-Insel

Walter Jurmann, Erich Zeisel, Fritz Kreisler, Max Steiner, Oscar Straus, Alexander Zemlinsky und Arnold Schönberg. Sie alle lebten einmal in der Wiener Leopoldstadt, sie alle mussten aus Wien fliehen. Trotz vieler unvergesslicher Melodien sind die meisten von ihnen nahezu vergessen. Ein von der Pianistin Andrea Linsbauer gestalteter Musikspaziergang durch den Bezirk erinnert an seine kulturelle Blütezeit.

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Andrea Linsbauer begab sich während der Corona-Lockdowns auf Spurensuche. Entstanden ist ein hoch spannendes Musikprojekt über die jüdische Leopoldstadt. © Nancy Horowitz

Während des Lockdowns in der Coronazeit, in der sie als Pianistin nicht auftreten konnte, schwärmte Andrea Linsbauer von ihrem Wohnort in der Novaragasse in die nähere und zunehmend weitere Umgebung bis in den Prater hinein aus. Bei ihren Spaziergängen entdeckte sie an den ehemaligen Wirkungsstätten und Wohnorten der exilierten und verstorbenen Künstler Gedenktafeln und Stolpersteine, und weil sie kultur- und musikgeschichtlich geprägt ist, begann sie zu recherchieren. Mit wachsender Begeisterung, wie sie erzählt.

„Beim Gasthaus Hansy auf dem Praterstern, wo Erich Zeisel und seine Familie ein Kaffeehaus betrieben und besessen haben, hat er kurz vor seiner Emigration sein letztes Lied Komm, süßer Tod in Anlehnung an Bach komponiert. Er hat als Einziger seiner Familie überlebt, weil er noch fliehen konnte. Vis-à-vis über der Aida Filiale erinnert eine große Gedenktafel an Max Steiner, in der Großen Schiffgasse wohnte Fritz Kreisler, in der Taborstraße Arnold Schönberg, im Hirschenhaus dort die Familie Strauss, dann gab es natürlich das Carltheater und im heutigen Theater Hamakom jüdisches Kabarett.“

Vom Augarten in die Mazzes-Insel. Der Anstoß war gegeben, und nachdem sie in einem Antiquariat auf historische Ansichten der Leopoldstadt gestoßen war, reifte in Andrea Linsbauer der Plan, ein Konzertprogramm zu entwerfen.

Praterstraße, Taborstraße, Nordbahnhof und Augarten sind nur einige der topografischen Hotspots des Musikprojekts. © Nancy Horowitz

„Geschichten aus der Leopoldstadt ist ein musikalisches Porträt des zweiten Bezirks, in dem ehemals bekannte Theater, Etablissements und Komponisten, die dort gelebt haben, porträtiert werden. Die historischen Ansichtskarten haben wir dazu audiovisuell für die Bühne aufbereitet und aktuelle Fotos den alten Ansichten gegenübergestellt, z. B. die ehemalige Sephardische Synagoge in der Zirkusgasse, wie sieht das heute dort aus, das Rotlichtviertel, die Stolpersteine, was ist noch übrig. Ganz groß auf eine Leinwand projiziert und jeweils auf die einzelnen Vierteln des Musikspaziergangs bezogen. Beginnend im Augarten, der ersten Station, da gab es einen Hoftraiteur, Ignaz Jahn, der von Kaiser Josef II. in den Räumlichkeiten der heutigen Porzellanmanufaktur die Erlaubnis bekam, Matineen zu veranstalten. Dazu hat er auch Mozart, Beethoven und Schubert engagiert. Eine Gedenktafel beschreibt, was alles dort uraufgeführt wurde. Mozart hat 1791 sogar noch ein Klavierkonzert dort gespielt. Der illustrierte Rundgang führt dann vom Augarten über das Karmeliterviertel mitten in die Mazzes-Insel.“

„Das Leopoldstadt-Projekt ist fix fertig
abrufbar und zeitlos schön.“

 

Auf die fruchtbarste und spannendste Periode, vom Beginn der Weltausstellung 1873 bis in das Jahr 1938, folgte der Niedergang des Bezirks, der auch seither wechselnde Phasen erlebt hat.

„Zur Blütezeit gab es viele Unterhaltungsbetriebe im Prater, Venedig in Wien, Revuetheater, Singspielhallen, verschiedene Etablissements zur Volksbelustigung, wie z. B. den Zirkus Renz; es war aber auch die Hochzeit des jüdischen Kabaretts. Eine ausgestorbene Kultur.“

In der Nachkriegszeit beherrschte das düstere, fast verruchte Rotlichtmilieu den Ruf der Leopoldstadt, bis sie sich schließlich gentrifiziert in Bobo-Town wandelte und der wachsende Anteil der jüdischen Bevölkerung in Richtung Orthodoxie bis Ultraorthodoxie. Die exilierten jüdischen Künstler sind nicht mehr in die Leopoldstadt zurückgekehrt.

Fritz Kreisler um 1910. Er wohnte in der Großen Schiffgasse, unweit von Schönberg und der Familie Strauss. © Nancy Horowitz

Engagement und Liebe. Was der Bezirk, was die Stadt unwiederbringlich verloren hat, dem kann man, wenn es wieder einmal soweit ist, in Linsbauers Leopoldstadt-Projekt nachspüren, das seit 2021 viermal aufgeführt und immer begeistert aufgenommen wurde. Zuletzt am 8.März im ausverkauften Ehrbar-Saal. Moderiert von Christoph Wagner-Trenkwitz, singen und spielen Künstler wie Adrian Eröd und Christian Altenburger.

„Das Leopoldstadt-Projekt ist fix und fertig abrufbar, zeitlos schön, ohne Bezug auf irgendein Jubiläum. Ich suche für die Aufführungen immer eine passende Location, nur das Theater Nestroyhof Hamakom, das meine erste Wahl gewesen ist, hat sich bis jetzt leider nicht dafür interessiert.“

Engagement und Liebe zu den Dingen, für die sie „brennt“, kennzeichnen die Pianistin und zweifache Mutter, die zusätzlich Italienisch und Musik am Gymnasium unterrichtet.

„Mein Grundinteresse an jüdischer Kultur und Judentum geht auf meine Fachbereichsarbeit über den jüdischen Friedhof in Schaffa zurück. Ich habe dann auch drei Semester Judaistik bei Kurt Schubert studiert. Seine Vorlesung über die Geschichte des Wiener Judentums war für mich ein perfekter Einstieg. Da wir ein Haus in Geras im Waldviertel haben, wussten wir, dass es jenseits des damaligen Eisernen Vorhangs, in Mähren, viele jüdische Friedhöfe gegeben hatte. Ich bin dann mit einer Freundin dorthin auf Spurensuche gegangen. Es war abenteuerlich, wir sind über Friedhofsmauern geklettert, und währenddessen wurde unser Auto gestohlen, aber ich habe viel Material zurückgebracht. Damals war ich 18.

Meine Diplomarbeit habe ich dann über Fritz Kreisler geschrieben. Ein wienerischer Komponist, Kavalier und Geiger, ein Exilant, der als ,Gentleman from Vienna‘ Weltruhm errang, über den es aber keine Literatur gab. Ich wurde dann nach Washington geschickt und habe dort ein halbes Jahr recherchiert. Für mich war klar, dass das die Richtung ist, für die ich nach wie vor brenne. Es ist viel mehr als ein Hobby, die Projekte und Konzerte, die ich initiiere und programmiere, sind auf diese Thematik ausgerichtet.“

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